
Maurice Béjart, einer der prägenden Choreografen des vorigen Jahrhunderts, hatte vor allem in seinen letzten Lebensjahren eine besondere Verbindung zu der Chemiestadt. Hier war sein „Béjart Ballet Lausanne“ (hervorgegangen aus dem legendären Brüsseler „Le Ballet du XXe Siècle“) regelmäßig zu Gast, und er selbst gleich mit. Zuletzt präsentierte er 2007 die Schülerinnen und Schüler seiner eigenen Tanz-Akademie, der Ecole-Atelier Rudra Béjart, während der sanierungsbedingten Pfalzbau-Schließung in der Ausweich-Spielstätte Corso-Kino.
Da saß er, sichtlich von Krankheit gezeichnet, bereits im Rollstuhl; den früher üblichen roten Bohème-Schal hatte er gegen ein lilafarbenes Exemplar getauscht. Auf die vorsichtige Frage nach dem Umgang mit seinem Erbe erklärte er rundweg, das würde ihn nicht interessieren: Die Leute brauchten nicht in seine Klassiker zu rennen. (Beispielsweise gilt sein „Boléro“, ein Solo auf einem runden Tisch im Zusammenspiel mit einer Gruppe - in unterschiedlichsten Gender-Variationen - als erotischster "Stuhlkreis" der Ballettgeschichte). Für Béjart zählte immer sein letztes Werk – und die künftigen, die er noch im Kopf hatte. Doch dazu kam es nicht mehr; er starb nur wenige Wochen nach diesem Gespräch, kurz vor dem 81. Geburtstag.
Béjart hinterließ ein riesiges Erbe, das die Kompanie seines Namens lebendig zu halten und in die Gegenwart zu retten versucht. Siebzehn Jahre lang lag diese Aufgabe in den Händen von Gil Roman. Aus dessen chorografischer Feder stammte das Auftaktstück „Alors on Danse …!“, das betont nichts weiter sein will als eine schöne Aufforderung zum neoklassischen Tanz; ein Stück, in dem sich die über dreißig Ensemblemitglieder in wechselnden Konstellationen so recht präsentieren können. Tatsächlich verfügt die Kompanie über viele gute und einige hervorragende Tänzerinnen und Tänzer, traditionsgemäß mit einer Betonung auf letzteren. Maurice Béjart war einer der ersten, der männlichen Tänzern weit differenziertere Rollen zutraute als große Imponiersprünge und das Hochheben willfähriger Partnerinnen.
„Wunsch nach Leichtigkeit“
Gil Roman freilich traute seinen Ensemblemitgliedern – und vielleicht auch dem Publikum – nicht viel mehr zu als das Erfüllen schöner Erwartungen in technisch aufwendigen und geometrisch höchst akkuraten Figuren. Die Choreografie soll nach seinen Worten den „Wunsch nach Leichtigkeit“ in unruhigen Zeiten erfüllen. Dem Pfalzbau-Publikum gefiel’s – aber Jubelrufe gab’s erst nach der Pause, als das Béjart-Programm begann. Dessen Kunst, in die Essenz exotischer Kulturen einzutauchen und sie mit den Chiffren des klassischen Balletts verblüffend exakt neu zu schreiben, ist bis heute unerreicht. Dabei nutzt er die Original-Musiken als Brücke; folkloristische Gefälligkeit sucht man allerdings vergeblich. Landestypische Tänze inspirierten ihn höchstens für das Erfinden eigener Tanzbilder; so schafft er in den „7 Danses Grecques“ das Kunststück, zu Musik von Theodorakis hellenistischen Geist heraufzubeschwören, ohne selbst im Sirtaki auf populäre Tanzschritte zurückzugreifen.
Keiner der ausgewählten choreografischen Leckerbissen stammt aus dem künstlerischen Spätwerk von Béjart, der 1992 seine Truppe auf dreizehn Stellen verkleinerte, um mehr auf darstellerische Essenz und weniger auf die schiere Macht der großen Gruppe zu setzen. Hier zeigt sich exemplarisch das Dilemma des Umgangs mit einem überwältigenden künstlerischen Erbe: Béjart war nicht nur Kosmopolit und immer wieder aufs Neue fasziniert von den vielfältigen Kulturkreisen dieser Welt, sondern er hatte auch ein waches Gespür für den Zeitgeist. Ein „Best of“-Programm mit Schielen nach dem Publikumsgeschmack kann ihm nicht gerecht werden – ein Dilemma, das sich vergleichbar im Umgang mit der choreografischen Hinterlassenschaft anderer Choreografie-Ikonen wie Merce Cunningham oder Pina Bausch zeigt. Neuerdings steht Ex-Startänzer Julien Favreau am Ruder des Béjart Ballets. Die Personalie lässt vermuten, wohin die Reise gehen soll: geradewegs zurück in eine glorreiche Vergangenheit.
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