Schaut auf dieses Dorf!
Das Origen Festival in Riom beeindruckt auch diesen Sommer mit Uraufführungen
Zwei weitere Premieren, diesmal von Ilia Jivoy und Robert Robinson, beim Origen Festival
Man kann immer wieder nur staunen: Das Origen Festival in Graubünden hat seit Beginn dieser Sommersaison im Juni circa 80 Vorstellungen präsentiert und etwas mehr als drei Dutzend folgen noch bis Mitte August. Neben acht Tanzuraufführungen nebst ihrer Folgevorstellungen im kleinen Riom sollen eine weitere Tanzproduktion im Bischöflichen Schloss in Chur sowie Schauspiel, Musiktheater und Konzerte an diversen anderen Orten in der Umgebung hier zumindest erwähnt sein. Dazu gibt es knapp 15 Kilometer bergauf nahezu täglich Führungen und Vorträge im winzigen Ort Mulegns. Hier wird Origen bald zwei neue Stätten für kulturelle Darbietungen haben: das frisch renovierte und zu einem (innen)architektonischen Kleinod verwandelte Post Hotel Löwe und der gerade spektakulär in die Höhe wachsende weiße Turm – mit 30m Höhe wird er das weltweit höchste 3D-gedruckte Bauwerk.
Für das Tanzfestival ist diese Woche Halbzeit und in Riom sind erneut zwei jeweils einstündige Uraufführungen zu sehen. Wie alle Produktionen in diesem Sommer, sind inspiriert sind von dem Motto "Kain und Abel". Intendant Giovanni Netzer lässt allen Choreograf*innen komplett freie Hand in ihrer Ausgestaltung dieses Themas, das sich in seinem Kern um die Interpretation von geschwisterlichen Beziehungen dreht.
Das Menschsein in all seinen Facetten: Ilia Jivoys „Cult“
Ilia Jivoy, der zum siebten Mal Gast in Riom ist, verließ 2022 seine Heimat St. Petersburg, wo er mit seiner Ausbildung an der Waganova Akademie und seiner Arbeit als Tänzer und Choreograf am Mariinsky Theater von zwei berühmten Institutionen geprägt wurde. Jetzt lebt er jetzt als freischaffender Choreograf in Barcelona. Die sechs Tänzer*innen, die in der Burg Riom in seinem neuesten Werk „Cult“ auf der Bühne stehen, sind Júlia Martí-Gasuli, Anna Soler Canet, Elena Troisfontaines, Massimo Margaria, Joseph Abdiel Peñaloza und Alex Vazquez Gala. Alle treten in schlicht-schönen schwarzen, gerippten ärmellosen Oberteilen auf, die Damen tragen kurze, die Herren lange schwarzen Hosen (Kostümdesign: Sonia Vartanian).
Ilia Jivoy hat zur Musik von Pēteris Vasks eine exquisite Choreografie geschaffen, die in ihrer durch und durch organischen Struktur viele Facetten des Menschseins widerspiegelt und sehr bewegt. Zu Beginn finden sich in einem Lichtkegel die sechs Tänzer*innen zusammen. Anna Soler Canet befreit sich aus diesem Ensemble, ihre Entdeckung einer Rose in der vorderen Ecke des weißen Bühnenbodens ist zart und anrührend. Sie wagt sich wieder an den Kreis der anderen heran, wäre gerne Teil von ihnen, doch die fünf Körper wehren sie wie eine uneinnehmbare Festung immer wieder ab und sie wird dann im wahrsten Sinne des Wortes fallenlassen. Sie wird zum Opfer, zur Ausgestoßenen; es ein Moment, der kurz an „Le Sacre du Printemps“ denken lässt. Anna Soler Canet ist eine stupende Tänzerin. Es ist regelrecht schmerzhaft, zu sehen, mit welcher Intensität sie flehend und haltlos ihrer Ausgrenzung tänzerischen Ausdruck verleiht, bevor sie zusammengekauert am vorderen Bühnenrand liegen bleibt.
Jivoy hat ein hervorragendes Gespür für die Anordnung der Tänzer*innen im Raum (mitgetragen wird es hier durch die fantastische Lichtgestaltung von Konstantin Binkin); er entwirft immer wieder spannende neue Ausgangskonstellationen, aus denen sich einzelne Soli oder Duette oder Gruppenszenen der ausnahmslos starken Interpret*innen entwickeln und denen allen eine große und scheinbar mühelose Fluidität innewohnt. Anna Soler Canets und Massimo Margarias Duett voll zögerlich-zärtlicher Annäherung und Zerbrechlichkeit beendet nach einem innigen Kuss und einem kleinen Rosenblütenregen mit einer Dosis von würdevollem Kitsch dieses lyrische Werk.
Wie Jivoy in der Einführung sagte, gehe es in „Cult“ es auch darum „how to find beauty in the overwhelming world.“ Der Zustand der Welt ruft uns dazu auf, Schönheit besonders intensiv und bewusst wahrzunehmen. So wie den Sommerregen an diesem heißen Tag, der während des Stücks eine prasselnde Melodie auf dem Schindeldach der kleinen Burg spielt, und seinen kühl-erfrischenden Duft durch die steinernen Mauern nach innen schickt.
Aus Fesseln befreien: Robert Robinsons „Nobody knows“
Der Brite Robert Robinson zeigte im vergangenen Jahr das erste Mal eine Choreografie bei Origen, und präsentiert in diesem Jahr sein neues Werk „Nobody knows“ in der Clavadeira, der für die behutsame, bildschöne architektonische Umgestaltung mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichneten ehemaligen Scheune. Nach seiner solistischen Karriere beim Stuttgarter Ballett und am Staatstheater Hannover ist Robinson gerade im Begriff, seine Karriere als Tänzer zu beenden. In diesem neuen Stück tanzt er aber noch selbst, neben Marta Cerioli, Sofie Vervaecke, Giada Zanotti (alle drei ebenfalls aus der Hannoveraner Compagnie) sowie Daniele Badagliacca, einem freischaffenden Tänzer.
Es ist ein Werk, in dem Robinson erkundet, wie freundschaftliche Bande einen engen geschwisterlichen Verbund bilden, in dem Reisen in unbekannte Destinationen kreativ ausgelotet werden. Zu Beginn des Stückes liegt Marta Cerioli auf dem Boden, das Publikum sitzt auf Stufen um die gesamte Bühnenfläche herum. Sie trägt Bandagen um Kopf, Arme und Beine. Die anderen vier betreten den Raum und wickeln, langsam um sie herum schreitend, zunächst die von Armen und Beinen ab. Wie ein Spielball äußerer Kräfte wird sie dabei fließend hin und her und schließlich zum Stehen manövriert: Wer zieht, was zieht, wohin zieht es? Nobody knows.
Robert Robinson hat dieses neue Werk im Wesentlichen zur Musik von Songs choreografiert, in denen immer wieder subtil zur Thematik passende Zeilen wie ein Herzschlag den Tanz mittragen. Daniele Badagliacca lässt aus seinen Taschen güldenen, herzförmigen Sternenstaub rieseln, dazu gräbt sich die Liedzeile "Life is free" ein - auch hier ein Moment, in dem sich ein bisschen Kitsch organisch einfügt und einfach passt. Sofie Vervaecke, von Marta Cerioli wie für einen Auftritt geschminkt, hat ein Solo zu Tschaikowskys Klängen aus dem Nussknacker Pas de deux, ein kleiner Exkurs in die Ballettwelt und dem Druck der Bühnenauftritte.
Es folgt ein interessanter Bruch: Die Worte des Schauspielers Stephen Frey erweitern die fünf Tänzer*innen um eine bildkräftige tänzerische Dimension. Er befasst sich in diesem Ausschnitt aus einem Podcast mit Betrachtungen des Ausgesetzt-Seins der Fremdwahrnehmung und Überlegungen über das, was letztlich wesentlich ist im Leben.
Robinson berührt als Tänzer und Choreograf
Ein eigenes längeres Solo von Robert Robinsons berührt; es ist ein immer wieder mit geschlossenen Augen getanzter Reflexionsprozess, der quälende Orientierungslosigkeit offenbart. Es spiegelt Verletzlichkeit, Verhaltenheit, ein zögerndes Bewegen in unbekanntes Terrain. Wenn man Robinson tanzen sieht, hofft man insgeheim, dass er trotz des erklärten Endes seiner Bühnenkarriere den eigenen Auftritten nicht ganz den Rücken kehren möge.
Auch für die anderen Vier hat er eindrückliche Partien kreiert, die sie charismatisch ausfüllen. Und in Gruppenszenen erzeugen skulptural anmutende Momente eine beeindruckende visuelle Wirkung. Schön auch eine kleine Choreografie für die Hände, bei der alle Fünf, zunächst ausgestreckt am Boden liegend, mit den Fingerspitzen trommelnd den Rhythmus aus dem „Tiny Desk Concert“Roi von Fred Again aufnehmen und ihn dann stehend, aber weiterhin nur mit den Fingern, fortführen.
Am Ende des Stücks steigen Robinson und seine Tänzer*innen blitzschnell durch das Publikum zu den Simsen oberhalb der Stufen hinauf, greifen sich kleine abstrakte Bildausschnitte (gemalt von Eliot Worrell), die dort wie eine Installation platziert sind, und fügen diese auf dem Bühnenboden wie ein Puzzle zu einem großen Gemälde zusammen. Was es darstellen soll: Nobody knows. Kraftvoll erspürt Robert Robinsons Choreografie das Annehmen des Undeutbaren und das Vertrauen in die richtige Fügung.
Nach den Arbeiten von Yaiza Coll, Andrey Kaydanovskiy, Luca-Andrea Tessarini, Sébastien Bertaud und Lucas Valente zeigen nun auch beide Uraufführungen dieser Woche, wie bestechend die Bandbreite des Tanzes ist, der bei Origen geboten wird. Und die begeisterten Reaktionen des Publikums legen immer wieder Zeugnis ab von der Überwältigung, in den intimen und besonderen Bühnenräumen Rioms Künstler*innen allerhöchsten Niveaus erleben zu dürfen. Es gibt immer etwas zu entdecken – auch noch in der kommenden Woche mit Premieren von Dustin Klein und Yuki Oishi, in denen Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts und des Béjart Balletts erlebt werden können.
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