Zwischen Rosenblüte und Sternenstaub
Zwei weitere Premieren, diesmal von Ilia Jivoy und Robert Robinson, beim Origen Festival
Das Origen Festival in Riom beeindruckt auch diesen Sommer mit Uraufführungen
Noch bis Mitte August präsentieren beim Origen Festival in Riom acht Choreograf*innen Uraufführungen – jede Woche zwei neue Stücke verschiedenen Bühnen. Tänzer*innen rund zwanzig verschiedener Nationalitäten, allesamt von den renommiertesten Compagnien Europas, geben sich in diesen Wochen in dem kleinen Bergdorf in Graubünden ein Stelldichein.
Das Motto des diesjährigen Sommerfestivals lautet „Kain und Abel“ und setzt so einen Impuls für die Werke, die sich alle in irgendeiner Form mit der Thematik von Geschwisterbanden und zwischenmenschlichen Konstellationen auf großer und kleiner Ebene, die sich aus ihnen ableiten lassen, befassen.
In der zweiten Woche sind es Sébastien Bertaud, Tänzer an der Pariser Oper, und Lucas Valente, Tänzer beim Ballett Zürich, die jeweils ihre für Origen kreierten Werke präsentieren. Bertaud war schon diverse Sommer Gast beim Festival; Valente wurde in diesem Jahr von Intendant Giovanni Netzer erstmalig eingeladen.
Très français
Ein Kronleuchter verpasst dem Bühnenraum in den trutzigen Gemäuern der Burg Riom einen Hauch Versailles und Palais de Garnier. Hier findet Sébastien Bertauds Stück „Wolfgang“ statt, in dem mit Naïs Dubosq, Adèle Belem, Pablo Legasa, Mickaël Lafon und Milo Avêque Tänzer*innen der Pariser Oper für ein kleines Publikum fast hautnah zu erleben sind.
Die Fünf schreiten auf die Bühne in höchst eleganten Kostümen, die Herren in Anzügen, die Damen in langen, vorn offenen schwarzen Röcken, alle barfuß. Angefangen mit Milo Avêque zeigen zunächst alle ein Solo. Das setzt einen Grundton für ein Stück, das durch und durch schön anzusehen ist, aber immer wieder den Eindruck eines Schaulaufens erweckt.
Der Choreograf selbst hat einen Auftritt, bringt den Damen Hosen, nimmt den Herren die Anzüge ab, tastet sich – warum? – wie ein Blinder an der Mauer entlang und in den Raum hinein. In einem Lichtkegel erklärt er auf Französisch den Titel des Stücks: „Wolfgang“ beziehe sich sowohl auf die Musik Mozarts, aber auch auf das Tier und den bekannten Satz „Homo homini lupus est“. Berichtet wird auch eine Geschichte, in der ein Großvater seinem Enkel vom guten und bösen Wolf erzählt und dass derjenige der beiden gewinnt, den man füttert. Auch die von einer Wölfin gesäugten Zwillinge Romulus und Remus finden Erwähnung. In der Struktur von „Wolfgang“ lassen sich zum Gesagten dennoch nur schwer Bezüge herstellen.
Mehr Lamm als Wolf
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sein soll, spiegelt sich in der Choreografie nicht wider. Es gibt immer wieder Momente angedeuteter Vereinzelung und Zerrissenheit, aber weder spürbare Animositäten noch gar Kämpfe, alles wirkt durch und durch harmonisch. Die Tänzer*innen finden in wechselnden Konstellationen und wechselnden Kostümen zusammen, und man kann sich des Eindrucks einer gewissen Beliebigkeit nicht erwehren. Auch ein angedeuteter Geschlechtertausch – die drei Herren in halben, semi-transparenten schwarzen Krinolinen – bleibt brav.
Es ist trotz allem ein Privileg, die phänomenalen Tänzer*innen in so kleinem Rahmen ganz aus der Nähe erleben zu dürfen und ihre klassischen Linien zu bewundern. In diesem neuen Stück von Bertaud steckt zwar mehr Lamm als Wolf, aber es ist ein großes ästhetisches Plaisir.
Ganz anders kommt in der „Clavadeira“, einer mit einfachen Mitteln äußerst geschmackvoll umgebauten ehemaligen Scheune, in der das Publikum auf drei Holzstufen rund um den gesamten Bühnenraum herum sitzt, das Werk von Lucas Valente daher.
Mit „Cain“ orientiert er sich an der biblischen Geschichte von Kain und Abel und hat ein Stück geschaffen, das mit seiner durchdacht angelegten Struktur und subtilen Vielschichtigkeit eine große Wucht entfaltet. Meiri Maeda, Michelle Willems, Mark Geilings und Matthew Knight, allesamt im letzten Jahr vom Ballett Zürich ans Staatsballett Berlin gewechselt, begeben sich mit Verve, Hingabe und Ernsthaftigkeit in dieses einstündige Stück ihres früheren Kollegen. Neben den beiden Brüder Kain (Knight) und Abel (Geilings) bringen die beiden Frauen eine Dualität in die Konstellation und lassen an Eva, an Mutter- und Schwesterfiguren denken.
Biss in den Apfel
Die Vier liegen schon vor Beginn des Stücks in hautfarbener, den Eindruck totaler Nacktheit erweckender Unterwäsche auf dem die ganze Bühnenfläche bedeckenden weichen Kunstrasen, die Füße in Richtung eines Apfels. Zunächst fast amphibienartig scheinen sie sich dann in diesem Garten Eden langsam in die Welt und in eine Existenz hineinzuspüren, liegend, stehend, mit puppenhaften Bewegungen, bis sie sich gegenseitig wahrnehmen und den Apfel erspähen, in den nach Debattieren mit Mimik und Gestik Meiri Maeda hineinbeißt. Schockstarre, grelles Licht, sich steigernde Percussion-Klänge. Aus Holzboxen in den Bühnenecken ziehen die Vier ihre sommerlich anmutenden Kostüme (Christopher John Parker). Beide Brüder tragen tannengrüne knielange Hosen und Kniestrümpfe und Hemden mit unterschiedlichen bunten Mustern, für die zwei gleichgemusterte clever halbiert und neu zusammengefügt wurden – jeder ist ein Teil des anderen.
Die folgende, geradezu schwindelerregend rasante Sequenz, in der sukzessive auch vier Hocker integriert werden, auf denen gestanden, gelegen, gelaufen, getrommelt wird, zeigt Lucas Valentes Vermögen, ungeheuer komplexe Bewegungsabläufe zu entwerfen. Vor allem Arme und Oberkörper berühren, finden und verschlingen sich immer wieder in scheinbar nie repetitiven Mustern, die in Hochgeschwindigkeit entstehen, und selbst in Momenten stakkatohafter Abruptheit nie ihren Fluss verlieren. Die vier Tänzer*innen meistern die absolute Präzision, die ihnen die Choreografie abverlangt, bravourös und mit intensiver Ausdrucksstärke.
Die Holzboxen entpuppen sich beim näheren Hinsehen als Cajóns. Platziert um einen runden Teppich nehmen die vier Tänzer*innen auf ihnen Platz, fangen an, rhythmisch zu trommeln, begeben sich reihum in die Mitte auf den Teppich, um in einem Lichtspot zu tanzen – wie ein archaisches Gebetsritual mit einem kleinen Touch Capoeira, soghaft und fesselnd.
Grandios choreografierter Mord
Schlicht atemberaubend ist die zentrale Szene des Brudermords. Das genial choreografierte Kräftemessen zwischen Kain und Abel entfalten Knight und Geilings in einem hochspannenden Changieren zwischen Annäherung und Abwehr, Dominanz und Unterwerfung. Teils beäugen sich Kain und Abel echsenartig am Boden, um dann wieder in einen körperlichen Angriff überzugehen. Ein permanentes raumgreifendes, extrem physisches Austesten, ein variantenreiches Rangeln und Kämpfen, das sich steigert und von Abel immer wieder mit ungläubigem Auflachen quittiert wird, als er merkt, dass er der Unterlegene ist. Der eigentliche Moment des Mordes, in dem Kain auf Abel sitzt, dessen verzweifeltes, um Einhalt bittendes Klopfen auf den Boden ignoriert, ist durchdrungen von verzweifelter Aversion, aber auch großer Liebe.
Michelle Willems und Meiri Maeda kommen fröhlich summend mit einer Taschenlampe und einem Körbchen herein, sammeln Blumen, die sich zu den Füßen des Publikums befinden – und erstarren, als sie den Toten sehen, finden sich mit ihm zu einem herzzerreißenden Abschiedstanz zusammen, entledigen ihn seines Hemdes, das sein Grab markieren wird. Eine Holztür oberhalb der letzten Sitzreihe öffnet sich quietschend, helles Licht und Nebel strömen herein und Abel, sein nackter Oberkörper mit Blumen beklebt, entschwindet langsam in diese Himmelstür. Frei von Kitsch ist dies eine theatralische und starke Szene.
Kain betritt zögernd wieder den Raum, vor jedem seiner Schritte reißt Michelle Willems den grünen Boden des Paradieses vor seinen Füßen weg, Meiri Maeda straft ihn in einem berührenden Pas de Deux mit getanzter Verachtung und Verzweiflung. Allein, sich angesichts seiner Schuld in einem Lichtspot mit klatschenden Schlägen auf Herz und Körper kasteiend, die Hände um Vergebung ins Licht reckend, bleibt Kain schließlich in Dunkelheit zurück.
„Cain“ ist ein meisterhaftes Stück, das stellenweise sprachlos macht und das Publikum komplett in seinen Bann zieht. Lucas Valente hat hier etwas Neues geschaffen, was von Anfang bis Ende in jeder Hinsicht trägt, fesselt und überzeugt. Große Hochachtung.
Die Thematik, die Origen präsentiert, ist höchst aktuell, scheint doch in unserer heutigen Welt Spaltung über Versöhnung und über geschwisterliches Miteinander zu dominieren. Doch das Festival schafft im Sommerleben von Riom einen Gegenentwurf, der geprägt ist durch kreatives, offenes und respektvolles Beisammensein, Austausch und Entdeckungen. Er inspiriert und stimmt heiter und hoffnungsvoll.
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