Schaut auf dieses Dorf!
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Ein Blick in das Theater Keller62 würde vermuten lassen, dass Lucas Valente bei dem Angebot, auf der Fläche von maximal 20 Quadratmetern bei einer Deckenhöhe von bestenfalls drei Metern ein Tanzstück zu kreieren, sofort hätte abwinken müssen. Und doch hat er sich auf sehr durchdachte Weise dieser Herausforderung gestellt.
Der Brasilianer ist Tänzer beim Ballett Zürich und schon seit Jahren intensiv im Rahmen von kleineren und größeren Projekten auch mit Choreografieren beschäftigt. (Im Juni wird das "Ballet du Rhin" im Rahmen eines dreiteiligen Abends ein neues Werk von ihm aufführen).
"Shedding Echoes" fand in Zürich an drei Abenden im Rahmen des LGBTQIA+ Kultur-Festivals "Warmer Mai" statt. Das Theater Keller62, als Verein organisiert, existiert seit über 20 Jahren und ist – klein, aber fein – fester Bestandteil der Zürcher Theaterlandschaft.
In dem Stück geht es um die schmerzhafte Erkundung des Selbst, das Aufgeben einer (vermeintlichen) Identität und die Akzeptanz des eigenen Ich. Ein Thema von großer Allgemeingültigkeit, das sich im Rahmen des Kultur-Festivals besonders auf die LGBTQIA+ Community münzen lässt. Diesen Weg der Selbsterkundung, Selbsterkenntnis, dem Austarieren der eigenen Identität(en), bringt Valente in Verbindung mit dem bekannten 5-Phasen-Modell der Trauer der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross aus ihrem 1969 in den USA erschienenen Buch "On Death and the Dying": Denial, Anger, Bargaining, Depression, Acceptance.
Seit 2018 hat Valente ein eigenes Projekt, ein wechselndes Kollektiv von Tänzer*innen, "Collision" genannt. Für "Shedding Echoes" sind es Max Richter, Mitglied des Balletts Zürich, sowie Inara Wheeler, Lucas van Rensburg und Makani Yerg (alle drei aus dem Junior Ballett), in denen er sehr ausdrucksstarke Interpret*innen gefunden hat. (Und man kann nur bewundern, wie die Fünf neben ihrem vollen und fordernden Arbeitsalltag dieses Projekt, das sich absolut professionell präsentiert, gestemmt haben.)
Lucas Valentes Herangehensweise an den Ort ist clever: Von dem kleinen, steinernen Raum lenkt er den Fokus auf noch viel kleinere Flächen, nämlich – analog zu den Phasen des Kübler-Ross'schen Modells - auf fünf Teppiche verschiedener Größen und Formen, auf denen das Geschehen stattfindet. Sie wirken jeweils wie Inseln im Raum, auf denen die vier Tänzer*innen Innenwelten entfalten, die Kleinheit in jeglicher Hinsicht hinter sich lassen.
Seine Choreografie passt sich dem Raum perfekt an. Die geringe Deckenhöhe lässt keine Sprünge zu (ein Tanzboden fehlt ohnehin), es gibt sehr wenige Hebungen, die nie über Kopfhöhe gehen, ansonsten ist es ein Stück, in dem klar die Oberkörper und Arme dominieren und fast alle Sequenzen auch teilweise am Boden stattfinden. Die Bewegungssprache ist kraftvoll-expressiv, dabei immer wieder auch filigran, und so pointiert von den Tänzer*innen umgesetzt, dass sie die fünf Phasen für das Publikum deutlich fass- und spürbar macht.
Zu einer spannenden Musikauswahl wechseln sich Sequenzen mit allen vier Darsteller*innen, mit nur Zweien und mit Soli ab. So trägt der Song "Madre Acapella" von Arca ein Solo von Inara Wheeler, in dem sie – auf einem roten, runden Teppich - die Zerrissenheit und das Flehen der zweiten Phase des "Bargaining" bewegend darstellt. Einzig die leidenden Laute, die sie am Ende dieser Sequenz am Boden von sich gibt, hätte es nicht wirklich gebraucht (gleiches gilt für das laute Atmen ganz am Schluss des Stücks). Lucas Valente kann sich getrost vertrauen, dass seine Choreografie allein intensive Emotionen vermittelt.
Lichtdesign war Teil seines Studiums der Darstellenden Kunst an der Universität São Paolo (wo er übrigens auch Philosophie studiert hat). Dieses Wissen und Können kommt Lucas Valente hier zugute, denn die im Keller vorhandene Technik ist minimal und wenig variabel. Er lässt die Tänzer*innen immer wieder kleinere bewegliche und teils tragbare Leuchtelemente, wie z.B. flackernde Röhren, und auch Spiegel effektvoll in das Stück integrieren. Auch produziert seitliches Licht von rechts auf der linken Steinwand immer wieder starke Schattenspiele, die sich auch thematisch einfügen, ist doch die Selbstfindung immer auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten. Besonders eindrucksvoll wirkt diese Doppelung auch bei einer in bläuliches Licht getauchten Szene, die der Phase der Depression vorangeht, in der die Vier hintereinander stehen und nur die Arme in einer ausgeklügelten, rasanten Bewegungsabfolge tanzen lassen.
Ohne Brüche verweben sich die Teile des Stücks organisch ineinander. Nach einer schnell vergangenen Stunde setzen sich am Schluss die vier Tänzer*innen gemeinsam Hand in Hand nieder. Über diese Phase der Akzeptanz heißt es auf dem Programmzettel: "Es geht darum, ein Gefühl des Friedens zu finden". Dies wiederum passt zur Mission vom Keller62, der in seinem intimen Ambiente einen Ort bieten will, "an dem sich Menschen treffen und miteinander reden, sich gegenseitig zuhören, philosophieren, weinen, lachen, schweigen, oder einfach nur Menschen sind."
So haben sich auch auf dieser Ebene Raum und Stück gefunden. Es ist beachtlich und bemerkenswert, was Lucas Valente und Collision hier haben entstehen lassen.
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