„Geschwinde, ihr wirbelnden Winde...“ von Daniela Kurz und Stijn Celis

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Nürnberg, 15/11/2001

Ein Schock, die erste Ballettvorstellung nach Stuttgarts Jubiläumsgala! In Stuttgart neun Tage lang ein proppenvolles Haus, eine Bombenstimmung, ein Publikum, das seine Tänzer liebt, eine Kompanie, die sich von ihrem Publikum geliebt weiß und darum jeden Abend noch einen Zahn zulegt. In Nürnberg an einem Freitag – generell ein guter Theatertag – die dritte Vorstellung des neuen Ballettabends „Geschwinde, ihr wirbelnden Winde...“ (der am 10.11. Premiere hatte ) – ein wohlwollend geschätzt halbvolles Haus (1074 Plätze), wie eigentlich bei den meisten der hier in den letzten Jahren besuchten Vorstellungen; eine Stimmung: tote Hose, Tänzer, die sich die Seele aus dem Leib tanzen, ein paarmal spärlicher, rasch wieder zerflatternder Szenenbeifall, am Schluss dann intensiver Applaus, gewürzt durch ein paar Pfiffe (positiv gemeint) und Urschreie, wie das heute so üblich ist – jedenfalls Beifall, der sich an sich selbst berauscht. Wie mag da wohl die Vorstellung am 23. Dezember besucht sein? Anspruchsvolles Ballett in Nürnberg (zweitgrößte Stadt in Bayern) zu machen, scheint jedenfalls ein äußerst schwieriger Job zu sein.

Anspruchsvoll ist auch das neue Programm, das sich Daniela Kurz und Stijn Celis teilen – der junge Belgier, der schon einmal zuvor in Nürnberg gearbeitet hat, dann bei Martin Schläpfer in Mainz und der jetzt „Cinderella“ in Wiesbaden vorbereitet. Der Titel ist eigentlich ein Etikettenschwindel, der auch mich in die Irre geführt hatte. Denn ich liebe diese weltlichen Kantaten von Bach, gerade auch diesen „Streit zwischen Phoebus und Pan“ und hatte mir gedacht, dass es dazu vielleicht noch eine zweite Bach-Kantate gibt, die ja alle geradezu danach verlangen, getanzt zu werden – etwa die „Bauernkantate“ oder „Herkules am Scheideweg“. Denkste!

Im ersten Teil, live von Mitgliedern der Nürnberger Philharmonie auf der Bühne musiziert und von Kurz choreografiert, ein Sammelsurium von einzelnen Kammermusiksätzen Bachs, im zweiten, dem Stijn-Teil, ein Sammelsurium von einzelnen Bach-Sätzen aus diversen Werken, etliche auch elektronisch manipuliert, alle aus dem Lautsprecher – hier nun auch der Einleitungschor aus BWV B01. Was das Ganze mit Bach zu tun haben sollte, habe ich nicht ergründen können – von mir aus hätte es auch Czerny sein können – oder Noise Music. Im ersten Teil betreibt Kurz Laborarbeit – einzelne Gliedmaßen werden aus dem Dunkel herausgeleuchtet, Beine, Brustkasten, Rückenpartie, Arme, Schulterblätter – und heftigst in Bewegung gesetzt, dann auch addiert, eine choreografische Grammatik quasi oder Vivisektion am lebenden Tänzerkörper. All das verharrt in einem vortheatralischen Zustand – befindet sich also sozusagen in der choreographischen Pubertät.

Im zweiten Teil führt Stijn das Prinzip dann weiter, indem er alle möglichen Pas de deux-Formationen testet und sie dann zu Ensembles addiert, ohne dass das Ganze ein wirkliches Ballett ergäbe. Als Publikum kommt man sich vor wie im Auditorium einer choreografischen Anatomie. Beispiele werden vorgeführt. Von den Tänzern, sämtlich bestens trainiert, in vollkommenster Selbstentäußerung vorgeführt – wie in einer Lecture Demonstration.

Meine Idee von Theater ist das jedenfalls nicht – weder Ballett noch Tanztheater – und schon gar nicht Bach getanzt (nicht einmal vertanzt). Eher eine Demonstration von Ratlosigkeit im tänzerischen Umgang mit Bach. Aber ich muss zugeben, dass meine Vorstellung von getanztem Bach durch Balanchine, Robbins, Neumeier, Spoerli, Scholz und Konsorten geprägt ist (und dass ich schon mit Forsythes „Steptext“ und „Artifact“ beträchtliche Schwierigkeiten habe). Wo Bach als Titelspender ohnehin nur eine Luftnummer liefert, hätte ich mir gut auch einen anderen Kantatentitel vorstellen können à la „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Aber es hat den Anschein, als ob Daniela Kurz ihr jüngstes Projekt nur als eine Durchgangsstation auf dem Weg zu ihrer nächsten Premiere betrachtet. Die ist für den 15. März 2002 im Schauspielhaus angekündigt. Ihr Titel: „Mr. Gould, bitte! Tasta-Touren mit Glenn“. Wonach die Choreografen sich hoffentlich auf ein längeres Bach-Sabbatical einigen werden.

Für eine konträre Meinung über den neuesten Nürnberger Ballettabend verweise ich Internet-Benutzer gern auf die Kritik von Bernd Krause bei TanzNetz in der Rubrik Vorstellungen.

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