Ödipus

Sinnfällige Aktionen

Stuttgart, 09/10/2001

Mehr Wurst hätte man wirklich nicht nach der Speckseite werfen können: „Ödipus“, einer der dramatischsten Stoffe der griechischen Mythologie, in einer Koproduktion des Wangener Theaterhauses und des Berliner Ensembles (!) als Tanztheater inszeniert von George Tabori, einem der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit, die Musik von Wolfgang Dauner komponiert, choreografiert von den Tanzikonen Marcia Haydée und Ismael Ivo, die auch noch in den Hauptrollen zu sehen waren – es konnte ein Theaterereignis von epochalem Zuschnitt erwartet werden. Vor gut einer Woche war in Berlin die Uraufführung, jetzt erlebte das Stück seine Stuttgarter Premiere, weitere Aufführungen sind am 9. und 10. Oktober im Theaterhaus.

Die Geschichte: Königssohn Ödipus tötet unwissentlich seinen Vater Laios, heiratet unwissentlich seine Mutter Iokaste, mit der er vier Kinder (also Geschwister) zeugt und ein geachteter Herrscher über Theben wird. Das Land wird von der Pest heimgesucht. Als Ödipus von dem blinden Seher Teiresias die Wahrheit über seine Karriere erfährt, blendet er sich und geht in die Unterwelt. Auf diese Thriller-Essenz einer ungleich komplexeren Sage hat Tabori sein Stück zusammengekocht. Das ginge ja in Ordnung, wenn er ihm etwa dafür eine menschliche Dimension geschenkt hätte, die beim puren Erzählen des Mythos' nicht erkennbar ist.

Aber ach! Abgesehen davon, dass Ivo (Ödipus) wieder in bewundernswerter Weise Ströme von Schweiß vergießt und gar mächtig mit den Augen rollt, schreitet das gut einstündige Geschehen wie ein exquisit gestalteter Scherenschnitt dahin. Die von Margit Koppendorfer ganz in seidiges Schwarz gekleideten Tänzer agieren, von Marcel Kaskelines Horizont aus langen, weißen Hemden umgeben, in sinnfälliger Weise, viele schöne Bilder tun sich auf, es lässt sich in jeder Aktion, ja in beinahe jeder Bewegung, ein dramaturgischer Faden zum Mythos ziehen. Ob nun Ödipus seine Mutter (Haydée) auf ihrem Stuhl wie eine Sphinx über die Bühne schiebt, an ihrer Brust trinkt, ob Iokaste die Brille ihres toten Gatten achtlos fortwirft oder sich genüsslich ihre erste Witwen-Zigarette zwischen die blutroten Lippen steckt – alles ist bestes Design. Sogar der rote Saft, der aus Ödipus' toten Augen quillt, macht sich ausgezeichnet.

Der Inszenierung scheint von Anfang an das Konzept gefehlt zu haben. Schon dass Dauners Musik bald als ungeeignet empfunden, weitgehend eliminiert und durch Arvo Pärt und Percussion ersetzt wurde, lässt nicht gerade auf gründliche Vorarbeit schließen. Der nicht enden wollende Krakelauftritt der hinreißend verfault geschminkten Chiara Tanesini als Pest, die funktionslos tanzende Tochter Antigone (Cristina Perera) und der mit seiner riesigen Steinmaske wie aus Epidauros hereingeschneite Teiresias (Schauspieler Jonas Fürstenau) unterstreichen diesen Mangel nachhaltig. Man schaut immer öfter auf die Armbanduhr und ist froh darüber, dass die Aufführung schließlich fünf Minuten kürzer ist als angekündigt.

Aber es gibt eine Szene, es ist die erste, die erschrecken macht: Ivo betritt als letzter den Saal und fragt einen Zuschauer (Fürstenau) in der ersten Reihe, ob der nicht auf seinem Platz säße. Ein Wort gibt das andere, längst ist alles als Theater erkennbar, da sagt Fürstenau: „Beweg deinen schwarzen Arsch hier raus, Bimbo!“. Entrüstetes Gemurmel. Als Ivo wenig später seinen Widersacher (Vater) erschlägt, da rührt sich nichts im Saal. Das hat ja auch nicht die political correctness verletzt. So leicht lässt sich unsere verkrampfte Haltung in Sachen Fremdenfeindlichkeit entlarven. Am Ende gab es höflichen Applaus. Und wenn man das Stuttgarter Publikum kennt, dann kommt das einem Durchfall gleich.

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