Hinter der Südseetapete
Das große Krabbeln bei „Lawn“ zum Auftakt der Tanzplattform
Auf die tanzenden Katzen, die nach Berlin umgezogen sind, folgt im Stuttgarter SI-Centrum gleich das nächste Musical-Phänomen: gestern Abend hatte das Musical mit der weißen Maske Premiere. Andrew Lloyd Webbers Kassenschlager aus dem Jahr 1986 läuft im deutschen Sprachraum nun auch schon seit vierzehn Jahren fast ununterbrochen, zuletzt in Hamburg. Von dort hat die niederländische Firma Stage Holding, die den bankrotten Stella-Konzern und damit fast alle deutschen Musicaltheater übernommen hat, die bekannte Inszenierung für eine kürzere Laufzeit ins Schwäbische transferiert, bevor dann wieder neue Musicals kommen sollen.
Die frisch und sorgfältig einstudierte, ansonsten absolut identische Aufführung beweist auch hier ohne Frage, warum die traurig-schaurige Geschichte des entstellten, maskierten Genies noch immer so erfolgreich ist: Sie ist ein perfektes Ganzes. Die luxuriöse Ausstattung von Maria Björnson und die Special Effects wie der abstürzende Kronleuchter sind nicht nur bloße Effekthascherei, sondern wurden von Regisseur Harold Prince als wesentliche Bestandteile in die spannende und bewegende Geschichte integriert. Lloyd Webbers romantische Musik mit ihren Liebesduetten, mit den arienartigen Songs von Christine und dem Phantom, mit den Opernparodien und der dröhnenden Orgel trägt in jeder Minute die Handlung. Für alle, die mal Abwechslung von der angenagten Viebrock-Tapete brauchen, ist die überreiche Optik des „Phantoms“ noch immer die schönste Gelegenheit, einen Abend lang im kulturpolitisch inkorrekten Eskapismus zu schwelgen – vom vergoldeten Theaterportal mit seinen Engeln und Putten über die verschwenderischen Draperien bis zum unterirdischen See mit seinem Kerzenmeer.
Die Stage Holding und ihr Chef Joop van den Ende stehen im Ruf, mehr vom Theater zu verstehen als ihre eher an Geld interessierten Vorgänger. Dafür spricht der hohe Standard der bis in die Nebenrollen sehr gut besetzten Stuttgarter Produktion, die allerdings an die Qualität der deutschsprachigen Erstaufführung in Wien nie heranreicht. Noch ein bisschen harmloser, als das verwirrte Chormädchen ohnehin ist, spielt Janine Kitzen die Sängerin Christine. Michael Lewis, der als ihr Geliebter Raoul bis vor ein paar Tagen noch am Broadway auf der Bühne stand, hat als einziger rundum Weltklasse-Format. Ian Jon Bourg war bereits in Hamburg das Phantom und kennt seine Rolle bestens; er weiß, wie sehr es auf die ausdrucksvollen Hände, die Körpersprache und all die vielen Textnuancen ankommt. Leider scheint es ihm Mühe zu bereiten, das Schmeicheln, Säuseln, Toben und Verzweifeln des Phantoms auch stimmlich souverän umzusetzen – wie schade, dass er nicht bei den Vampiren nebenan geblieben ist, denn als Graf Krolock war er sensationell.
Auch Tanz gibt es in der romantischen Love-Story, aber nur als nostalgisches Zitat: Für die kichernden Ballettmädchen der Pariser Opéra, zu denen Christine vor ihrer steilen Karriere gehört, hat die „Cats“-Choreografin Gillian Lynne ein paar klassische Opern-Balletteinlagen entworfen, selbstverständlich auf Spitze. Da ist man nebenan bei den knackigen Vampir-Rockern choreografisch doch weiter. Zwar hat das „Phantom“ einen internationalen Musical-Standard gesetzt, nach dem sich die meisten neuen Produktionen seitdem immer noch vergebens strecken, und man wird sich an dieser Aufführung sicher nie in einer solchen Weise sattsehen wie bei den überlebten „Cats“. Aber in Stuttgart läuft noch ein anderes Musical, in dem ein unheimlicher Umhangträger die Nachtliebe der deutschen Romantik heraufbeschwört – hier bleibt „Tanz der Vampire“ mit seinen düsteren nächtlichen Träumen und dem philosophierenden Grafen trotzdem das faszinierendere Werk.
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