Berlin (I) und (II)

„Krokodil im Schwanensee - Tanz in Deutschland nach 1945“ und Staatsoper Unter den Linden: „Die Bajadere“

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Berlin, 03/10/2003

Berlin (I): „Krokodil im Schwanensee – Tanz in Deutschland seit 1945“

Nichts wie hin! In die Ausstellung „Krokodil im Schwanensee – Tanz in Deutschland seit 1945“, ausgerichtet von der Berliner Akademie der Künste und ihrem tanzbesessenen Projektleiter Dirk Scheper – daselbst noch bis zum 30. November zu besichtigen. Da haben Hedwig Müller, Patricia Stöckemann und Ralf Stabel ganze Arbeit geleistet, und Norbert Stück hat die von ihnen überreich zusammengetragenen Materialien (jede Menge Fotos, schwarz-weiß und farbig. Filme, Videos, Poster, Programmhefte und sonstige Publikationen – keine Spitzenschuhe oder Schläppchen, keine Kostüme, keine Privatissima) grafisch so attraktiv aufbereitet und arrangiert, dass man die Ausstellung wie ein splendid choreografiertes fünfaktiges Ballett durchschreitet (ach was – nicht schreitet, sondern durchtanzt)!

Die einzelnen Akte sind in Zeitabschnitte gegliedert: 1945-1949 (Die ersten Nachkriegsjahre in den westlichen und der sowjetischen Besatzungszone), 1949-1961 (Neuorientierung am klassischen Ballett im Westen und die fünfziger Jahre in der DDR), 1961-1973 (Vom klassischen Ballett zum Tanztheater im Westen und die 60er Jahre in der DDR), 1973-1989 (Tanztheater der 70er und 80er Jahre in der Bundesrepublik und in der DDR) und 1989-2003 („Wir sind ein Volk“ – Die Tanzszene im wiedervereinigten Deutschland seit 1990). Das ist gleichsam eine enzyklopädische Bestandsaufnahme von fast sechzig Jahren Tanzgeschichte in Deutschland (ohne Österreich und die Schweiz), und man muss den Kuratoren bestätigen, in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Entwicklungen in West und Ost absolut gleichberechtigt verfahren zu sein. Vielleicht hätte man selbst ja den einen oder anderen Akzent anders gesetzt – gleichwohl verdient die Ausgewogenheit in der Darstellung der zeitlich parallelen Entwicklungen in Ost und West hohen Respekt – einmal ganz abgesehen von der schier überwältigenden Materialfülle.

Hier ist ein persönliches Bekenntnis angebracht. Ich habe ja diese fast sechs Jahrzehnte bewusst miterlebt und fünf davon kritisch begleitet – und so wurde ich auf Schritt und Tritt von meiner eigenen Vergangenheit begleitet. Und habe dabei viele Ereignisse und Persönlichkeiten wiederentdeckt, die inzwischen völlig meinem Gedächtnis entfallen waren. Zu der von zahlreichen Rahmenveranstaltungen begleiteten Ausstellung ist im Anabas-Verlag, Frankfurt/Main, ein opulent illustriertes Ausstellungsbuch erschienen (286 Seiten – in der Ausstellung 25 Euro, im Buchhandel 34 Euro) – es dürfte schon bald zum Standardwerk über den Tanz in Deutschland von 1945 bis 2003 avancieren. Außerordentlich benutzerfreundlich durch das gesondert beigegebene Register der Personen und Fotografen, hätte ich mir lediglich die Bildlegenden in einem stärkeren Schwarz gewünscht.

Berlin (II), Staatsoper Unter den Linden: „Die Bajadere“

Eine normale Vorstellung der „Bajadere“ – aber was ist schon normal an diesem Superkolossal-Ballettspektakel? Deutsch ist lediglich der Titel der Berliner Produktion – alles andere hat weltstädtisches Format: die Produktion von Vladimir Malakhov, die traumhaft schöne Ausstattung von Jordi Roig, die Solisten (auch ohne Gäste und Raritätsstar), die erheblich an Souveränität gewonnene Kompanie (inklusive der inzwischen wie selbstverständlich und flüssig praktizierten Pantomimen), die kleinen Patzer, die wie Schönheitspflästerchen wirken für so schönheitssüchtige Ballettfans wie mich eine einzige dreieinhalbstündige Augen- und auch Ohrenlust! Da weiß man doch wieder, warum man ins Theater geht. Eben um transportiert zu werden in Dimensionen weitab jeglicher Alltagserfahrungen, in die Höhe absoluter Vollkommenheit! Nicht geringen Anteil hatten die vorzüglichen Solisten – einmal ganz abgesehen von den 32 Bajaderen (wahrlich Pioniere des Minimalismus).

Nadja Saidakova ist eine anrührend liebenswerte Nikia, klassisch in den Proportionen, souverän im Auszirkulieren ihrer Enchainements, Viara Natcheva eine ungemein hoheitsvolle, elegante, kühle und selbstbewusste Gamsatti und Ronald Sarkovic ein zwar nicht sonderlich heldischer Solor (der ist auch Malakhov nicht), dafür ein umso attraktiverer, linienschlanker, standsicherer und partnerschaftsverlässlicher Liebhaber, mit pfeilgeraden Sprüngen, die nur noch einer schärferen Attacke bedürfen. Ungemein würdevoll auch der Oberbramane von Andrej Klemm, aalglatt der Fakir von Dinu Tamazlacaru und auch Martin Buczko lädt seinen Goldenen Gott mit funkenstiebender Elektrizität auf. Großen Respekt auch für die harmonisch stimmige Ausführung all der kleineren Ensembles und großen Divertissements. Alles in allem also eine „Bajadere“, die sich sehen lassen kann – auch im internationalen Rahmen (und um Klassen dem unglückseligen Hamburger Makarova-Import überlegen). Roigs Himalaya-Prospekt allerdings habe ich von Wien her in überwältigenderer Majestät (besser beleuchtet?) in Erinnerung, und den Schlussakt wünschte ich mir dramaturgisch und inszenatorisch noch stringenter (und ohne die banale Orchester-Überleitung).

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