Da steht ein Lindenbaum

Trisha Brown inszeniert Schuberts „Winterreise“

Luzern, 12/09/2003

Anfangs ist man geneigt, es für einen Witz zu halten - die Bezeichnung „Tanz“ hat diese Aufführung nun wirklich nicht verdient. Was sich Trisha Brown für drei Tänzer und einen Sänger zu Schuberts „Winterreise“ ausgedacht hat, ist eine Bewegungsanordnung, mehr nicht. Die amerikanische Choreografin, die hier wohlweislich nur als Regisseurin genannt wird, bleibt sparsamer als sparsam in ihren Mitteln, sie ist minimalistisch bis zur völligen Eindunkelung der Szene.

Die drei Tänzer tauchen eher sporadisch neben dem Sänger Simon Keenlyside auf, ihre Aktivitäten beschränken sich meist auf langsame Armbewegungen, Im-Kreis-Laufen, kurze Wege über die Bühne. Die stark stilisierten Armhaltungen, zum Beispiel das marionettenartige Stillehalten der Arme mit angewinkelten Ellenbogen, und die wichtige Rolle des Lichts (Jennifer Tipton) erinnern an den abstrakten Inszenierungstil von Bob Wilson. Als ein durchgängiges Zeichen wiederholt Trisha Brown immer wieder eine Baum-artige Figur, bei der zwei Tänzer hinter dem Bariton stehen und alle drei ihre Arme verschieden bewegen - wie eine indische Göttin, wie Fluglotsen oder Vogelscheuchen, oder eben wie der berühmte Lindenbaum aus der „Winterreise“.

Manches erscheint zu wörtlich bebildert - auch der Bach, die drei Sonnen oder der Leiermann werden ganz direkt angedeutet. Die meisten der einfachen und mit zunehmender Minimalisierung immer eindrücklicheren Bilder sind von der Natur beeinflusst; manchmal schwanken die Tänzer nur wie Schilfrohre ganz leicht hin und her, manchmal sitzt der einsame Sänger nur zusammengesunken auf dem Boden oder seine Stimme erklingt aus völliger Dunkelheit.

Die Idee zu dem inszenierten Liederabend stammt vom britischen Bariton Simon Keenlyside, der hier geradezu Unglaubliches leistet. Einmal singt er Schuberts vierundzwanzigteiligen Liederzyklus in einer musikalisch makellosen Interpretation, und dann verkörpert er das, was er singt - er agiert, bewegt sich, tanzt. Aber Keenlyside macht in keinster Weise eine One-Man-Show aus der Aufführung, im Gegenteil. Der hochintelligente Bariton singt mit perfekter deutscher Diktion, bei ihm stimmt jede Vokalfärbung, jede Betonung, jede Interpretationsnuance (einzig die recht mechanisch den Takt haltende Begleitung von Pedja Muzijevic trübt anfangs ein wenig den musikalischen Eindruck). Es ist eine zurückhaltende Auslegung, die nur an wenigen Stellen ins Forte fällt und sonst sehr introvertiert bleibt, ohne jegliche Manierismen oder persönliche Exaltiertheiten. Der britische Sänger nimmt sich in einer Weise hinter die Musik zurück, wie es Bariton-Kollegen wie Thomas Hampson oder Matthias Goerne nicht können. Und genauso, wie er singt, bewegt er sich auch - einfach, schön und ungekünstelt. Es ist eine leise, stille „Winterreise“, eine Wanderung von unendlicher Traurigkeit, der Monolog eines Ausgestoßenen, Todesmüden und zutiefst Vereinsamten.

Bei den bisher vertanzten oder inszenierten Versionen der „Winterreise“ hatte man an irgendeiner Stelle (oder gleich im ganzen Zyklus) immer das Gefühl, dass diese Musik eigentlich keine Bilder braucht. Nach diesem Abend aber wird einem etwas fehlen, wenn die Lieder nur im Frack an einem Klavier stehend gesungen werden.

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