Das Waganova-Institut in St. Petersburg

Köln, 03/11/2003

Ihn braucht man nun wirklich nicht erst vorzustellen, denn ihn kennt die ganze Tanzwelt. Und fühlt sich geschmeichelt, von ihm fotografiert zu werden. Denn längst ist Gert Weigelt zu einem Qualitätsbegriff höchster Güte in der Tanzfotografie avanciert. Wir kennen und schätzen einander seit meinen Kölner Tagen. Also schon seit gut einem Vierteljahrhundert. Diesmal beglückwünsche ich mich selbst: auf die Idee gekommen zu sein, ihn einzuladen, über seinen Besuch in St. Petersburg im koeglerjournal zu berichten. Dass er dabei den Offenbarungseid seiner Liebe zum Tanz und zu den Tänzern leisten würde, damit hatte ich freilich nicht gerechnet.
oe

Sankt Petersburg im Oktober 2003.
An einem durchwachsenen baltischen Herbsttag bog ich, von Süden kommend, in die Uliza Rossi ein (die bis 1923 noch Theaterstraße hieß). Da war sie, diese Flucht der zweieinhalb-geschossigen klassizistischen Bauten, die auf das Puschkin-Theater zulaufen. Rechterhand befindet sich das Portal des Waganova-Instituts, der wohl renommiertesten und traditionsreichsten aller Ballett-Akademien. Pawlowa, Nijinsky, Karsawina, Fokine, Balanchine, Ulanowa, Nurejew, Makarowa, Baryschnikow ... die Namen derer, die durch diese Tür ein- und ausgingen sind Legion. Selbst mich, der ich mich doch eher für den nüchternen Typ halte, überfiel der heilige Schauer des Pilgers ... Herr Nadirow, seit 29 Jahren „managing director“ des Instituts, verhalf mir wieder zu Bodenhaftung. Freundlich, bestimmt und routiniert gab er mir einen Abriss der Geschichte.

Eigentlich könnte man Tage dort verbringen. Ich hatte nur ein paar Stunden und wollte am liebsten die 13- bis 14-jährigen Eleven sehen. Herr Nadirov führte mich persönlich zum ersten Saal. Schon auf den Korridoren fand ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt; die Eleven, die mir begegneten, machten artige Diener und Knickse. Ein herzerwärmender Kontrast zu der rauen, ruppigen St. Petersburger Wirklichkeit „da draußen“. Abgesehen davon, dass ich, sobald ich einen Ballettsaal betrete, sofort „Heimat und Zuhause“ verspüre, wurde ich hier von den sieben Mädels gleich bezaubert. Sie ließen sich in ihrer betörenden Ernsthaftigkeit durch unser Eintreten beim Stangen-Exercise nicht stören.

Schwarze Leotards, helle Beintrikots. Nichts Überflüssiges, was von den puren Körperlinien ablenken könnte. Dieser Ballettsaal hat wie alle anderen noch Holzdielenboden mit einer Neigung von einem Grad. Gegen das Rutschen wird zwischendurch mit Wasser gesprengt. Die Abweichung von der Horizontalen ist der Bühne des Marientheaters nachgebaut. Ein Zeichen mehr, wie stark die beiden Institute miteinander verflochten sind – von der Aufnahmeprüfung bis zur Ausmusterung sozusagen ein Leben auf der „schiefen Bahn“. Als ich zu den Jungs hinüberwechsle, steigert sich mein Erstaunen noch. Auf eine knappe Handbewegung des Pädagogen hin stellen sich die fünf Buben, die bereits „au milieu“ arbeiten, in eine Fünfte und machten dann dem Gast zu Ehren eine Reverence. Ich war verblüfft, entzückt und verlegen zugleich. Beim Verlassen der Klasse das gleiche Procedere ... (übrigens stand in diesem Saal, an die Wand gelehnt, ein großes Foto des ganz großen Rudolf Nurejew. Er ist also zurückgekehrt – wenn auch noch nicht in die Ahnenreihe im Eingangsbereich.)

In einem anderen Saal erwartete mich eine Probe. Etwa zweiunddreißig Mädchen, zwischen acht und fünfzehn, versuchen sich an der Einstudierung einer Choreografie. Obwohl sie mir förmlich auf der Oberlippe tanzen, seh‘ ich kaum Gesichter. Sie atmen mit der Einheit eines Kollektivgeschöpfes. So wie das Ohr ein Orchester als Klangkörper wahrnimmt, so schmelzen hier die Individuen für das Auge zu einem „Bewegungskörper“ zusammen. Eben: „corps de ballet“. Wie jammerschade, dass wir kaum noch in den Genuss solcher Erlebnisse kommen. Durch die schleichende Ausdünnung der Ensembles und das offensichtliche Desinteresse der Choreografen, mit großen Ensembles zu arbeiten, durch den einhergehenden Unwillen der Tänzer/innen, sich der Anonymität des Corps zu „opfern“, wird uns dieses große Vergnügen nur noch selten zuteil, wie etwa in „Schwanensee“ oder Balanchines „Serenade“.

Zwei Ballettmeisterinnen und ein Coach führen die Probe. Es scheint ein internationales Phänomen zu sein, dass Ballettmeisterinnen sich auf der ganzen Welt ähneln. Ihre Gesichter spiegeln Schmerz und Trauer, als ob sie sich für den Verlust der eigenen Jugend fortwährend entschuldigen müssten. Als die Direktorin Altynai Asylmuratowa den Raum betritt, sinkt die Temperatur um ein paar Grade. Die Eleven reagieren mit angespannter Nervosität. Plötzlich wissen sie nicht mehr was ein Auftakt ist. Frau Asylmuratowa ist die jüngste künstlerische Direktorin, die der Schule je vorstand. Die gefeierte Ballerina beendete ihre Karriere mit 37 Jahren und übernahm dann im Jahre 2000 das Institut. Sie ist bildschön und strahlt die Autorität einer Turandot aus. Erst als sie den Saal wieder verlässt, trauen sich auch die kleinen Zaungäste wieder hervor, um die Mitschüler zu beobachten. Vielleicht habe ich an diesem Tag den einen oder die andere gesehen, der/die das Potenzial ihrer schillernden Direktorin in sich trägt oder die Anlage zu einem neuen Baryschnikow oder einer zweiten Makarowa. Ich werde es wohl nie erfahren. Aber es ist höchst wahrscheinlich.
Gert Weigelt

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