Jules Massenet: „Cendrillon“

oe
Karlsruhe, 24/05/2003

Nein, kein plötzlich aus der Versenkung aufgetauchtes „Aschenbrödel“-Ballett von Massenet (wie schade, denn in seinen Opern hat sich ja Massenet immer wieder als ein Komponist mit ausgesprochenem Flair für das Ballett erwiesen), sondern seine Oper aus dem Jahr 1899, klassifiziert als Conte de fées en quatre actes et six tableaux, mit großem Ballett für Irrlichter, Schneider, Friseure, Putzmacherinnen, ein Brautpaar, die Adelsfräulein. Prinzessinnen und Tautropfen.

Zwei Wochen nach Spoerlis „Les Indes galantes“ in Zürich, nun also in Karlsruhe wieder eine Oper, inszeniert und choreografiert von einem Choreografen – ohne Ballettbeteiligung (vermutlich, weil die Karlsruher Tänzer ohnehin so überbeschäftigt sind), dafür mit einem knappen Dutzend Extras plus Statisterie des Staatstheaters. Der Mann heißt Renaud Doucet, ist Franzose (mit zusätzlicher kanadischer Staatsbürgerschaft), der sich in einem Interview als ein Tänzer geoutet hat, der inzwischen aufgehört hat zu tanzen, nachdem er bei Roland Petit in Marseille, im Lido und im Alcazar engagiert und Assistent von Pierre Lacotte in Nancy war, und der heute vornehmlich in Nordamerika Opern inszeniert.

Doucet sagt von sich: „Ich liebe den Tanz! Aber ich hasse, wie er gemacht wird, weil er nichtssagend ist. Er drückt nichts aus. Außerdem stehe ich auf klassische Ballette. Ich bin wirklich sehr altmodisch: ‚Giselle‘ bringt mich z.B. immer zum Weinen. Aber ich ertrage nicht, dass man auf die gleiche Weise ‚Don Quijote‘ und ‚Bayaderka‘ tanzt! Es gibt keine Emotionen mehr, nur noch Gymnastik! Ich liebe Pina Bausch und Carolyn Carlson. Einige Choreografen von heute finde ich auch sehr interessant, aber die meisten treiben doch nur intellektuelle Onanie ... Ich liebe Filme, Videokunst, alles, was mit Bild zu tun hat ... vorausgesetzt, dass es einen Inhalt gibt!“ Der Mann spricht mir aus der Seele!

Mit dem Inhalt hat er dem Librettisten von „Cendrillon“ ein bisschen nachgeholfen und ein Traumspiel daraus gemacht – ein sehr französisches, denn „Cendrillon“ ist eine eminent französische Oper, sozusagen zwischen Rossinis „Cenerentola“ und Prokofjews „Soluschka“. Angesiedelt hat er sie in den Fünfzigern, mit ihrem Traum von glamourösen Fürstenhochzeiten, Hollywood Musicals, Plastikmöbeln, Straßenkreuzern à la Cadillac, Buick und Chevrolet, mit Aschenbrödel als einer fernen Verwandten von Audrey Hepburn – alles in Pink! Dabei hat er ganz aus der Musik heraus inszeniert, benutzt die ganze, ausladende Ballettmusik für eine Prinzessinnen-Parade, die beim Defilée dem Prinzen vorführen, über welche hausfraulichen Tugenden sie verfügen. Das ist ebenso witzig wie einfallsreich – vor allem aber hat er für die Solisten und Choristen jeweils einen eigenen Bewegungsgestus erfunden, der sitzt der Musik wie angegossen, ohne je in musikalische Pedanterie auszuarten (anders als bei den meisten anderen Opernregisseuren, die ihre Musikalität beweisen wollen, indem sie auf jeden musikalischen Akzent eine bestimmte Motion setzen). Das macht großen Spaß, und man kommt aus dem Schmunzeln nicht heraus. Die ganze Produktion tanzt quasi auf der Musik und verfällt doch nie in Manieriertheit.

Den für uns völlig neuen Namen sollten wir uns merken, denn diesen Monsieur Doucet sähen wir gern öfter bei uns arbeiten – zum Beispiel als Regisseur von Mozarts „Così fan tutte“ oder der Buffo-Opern von Rossini. Schade, dass Karlsruhe ihnen nicht ein bisschen früher entdeckt hat. Von ihm könnte ich mir gut die für die nächste Spielzeit angekündigte Karlsruher „Don Quijote“-Ballettproduktion vorstellen – eher jedenfalls als von dem aus Prag avisierten Slavickys sozialrealistischer Provenienz, an deren „Kadettenball“-Einstudierung für die Mannheimer Akademie ich mich nach ihrem Gastspiel in Ludwigsburg im Vorjahr mit einigem Schaudern erinnere (siehe koeglerjournal vom 7. Juli 2002).

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