„Laren“ von Urs Dietrich

Bremer Tanztheater

Bremen, 11/12/2003

Ein zweiköpfiges Wesen, halb Mann, halb Wolfstier, schiebt sich im Halbdunkel aus einem Loch in der rechten Bühnenwand. Komik und Grauen verbinden sich zu einem Alptraum, als sich Schnauze gegen Gesicht wendet, der Tierteil mit dem Menschkörper zu kopulieren scheint. Urs Dietrich hält in seiner neuesten Produktion „Laren“ im Bremer Schauspielhaus die Balance zwischen Lachen, Schmunzeln und Erschrecken, Schock. Er führt mit blühender Fantasie eine ganze Menagerie skurriler Gestalten vor: Ein pelziges Etwas mit einem weißen Kopf, das hinter einer elfengleichen Gestalt wie ein Frosch auf und nieder hüpft - eine schwarze Frauengestalt in einem Schlauchkleid mit ausgewölbtem Busen und Hinterteil, die sich um den Körper verschieben lassen, dadurch groteske Formen hervorrufen -– eine Figur mit überlangen Fingern, deren Solo vor dem Vorhang von fern an den deutschen Ausdruckstanz erinnert.

Nein, die mythologischen Hausgötter, die Laren der alten Römer, muss man nicht kennen, um dem Geschehen folgen zu können. Bis auf einen Kentaur, der mal kurz über die Bühne trabt, scheint mir eher der Gedanke des verdrängten Verborgenen, des Unterbewussten als die platte Darstellung originaler Laren die entscheidende Rolle zu spielen. Wohl deshalb taucht Dietrich (Bühne und Kostüme: Katrin Plötzky, Urs Dietrich) die Fläche häufig in traumhaftes Halbdunkel, lässt das Ensemble auch mal wie Schattenrisse erscheinen.

In drei Schritten öffnet Dietrich die Bühne bis zur vollständigen Ausdehnung, als steige er allmählich tiefer in die verborgenen Schichten ein. Den Beginn platziert er vor den geschlossenen Vorhang, lässt nur einen schmalen Streifen, auf dem etwa eine Frau ihr schepperndes Kleid wie ein Schlagzeug behandelt. Dann, im zweiten Abschnitt, wird der Raum größer, erschienen weiße Wände mit Steigleitern, über die Tänzer*innen herab- und heraufklettern, als kämen sie aus dem Unterbewussten und gingen wieder dort ein. Eine blaue Dame mit übertriebenem Gesäß (à la cul de paris) rezitiert bei zurückgebogenem Kopf mit starkem Akzent Unverständliches wie „Eischhörnschen“.

Schließlich, im dritten Teil, stellt Dietrich unter anderem eine Solistin wie im magischen Theater mit schwarz verhüllten Kopf und Gliedmaßen vor eine schwarze Wand, sodass nur ihr buntes Kleid schwerelos zu tanzen scheint. Noch tiefer gräbt sich Dietrich, indem er in die rückwärtige Wand einen rechteckigen Ausschnitt, wie eine Bühne auf der Bühne, schneidet. Dort vollzieht sich eine Serie von Paartänzen auf engstem Raum. Immer wieder schiebt sich eine Gruppe von sechs, sieben, acht Tänzer*innen in unterschiedlicher Besetzung dazwischen, untergliedert so den Ablauf. Dem Ensemble gibt Dietrich ein stilistisch ungebundenes Material aus Sprüngen, Drehungen (auch am Boden), Hüpfen, pendelnden Beinbewegungen mit, das sich im Finale zu fast rasendem Tempo steigert, furios bewältigt von den in Ausdruck und Typ sehr unterschiedlichen fünf Männern und sieben Frauen.

Urs Dietrich gehört zu den leiseren in der Tanztheaterszene, nichts könnte ihm wohl ferner liegen als die Berserkerwut eines Kresniks. So überrascht es nicht, dass blutig Mörderisches bei ihm nicht auftaucht. Aber unterschwellig Bedrohliches durchaus: In Soli brechen Tänzer*innen nacheinander in Zuckungen aus, werden rüde abgetragen. Immer lauteres Schlagen und dröhnendes Hämmern von außen gegen die Wände schafft eine beklemmend katastrophische Stimmung. Ein Paar steigert sich zu wildem Verklammern, bis er sie an der Wand emporstemmt und dort wie eine Skulptur hält – lange hält er sie wie in Erstarrung, die Lautbegleitung ist verstummt. Eine Frau wird grob gefesselt und von der Bühne gezerrt. Dietrich bietet keine wohlfeile Auflösung „So ist es“: Nach und nach stehlen sich die Tänzer*innen von der Fläche, bis die Bühne komplett geleert ist. Unsicherheit bei den Zuschauern, dann nach einer merklichen Pause herzlicher Applaus. Kein großer Abend, dazu fehlt ihm der stringente Zusammenhalt, stehen die Episoden zu isoliert nebeneinander, aber ein im guten Sinne unterhaltsamer, spannender und anregender.

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