Rameaus „Les Indes galantes“ zum Zweiten
Jean-Philippe Rameaus „Les Indes galantes“ überschwemmen einen derartig mit Sinneseindrücken der verschiedensten Art, dass es schwerfällt, einen klaren Kopf zu bewahren. Was ist denn das überhaupt: eine Opéra-ballet? Wobei schon die deutsche Fragestellung in die Irre führt. Denn Opéra ist im Französischen eindeutig männlichen Geschlechts. Eine Ballettoper? Mitnichten, denn die verschiebt schon in der Wort-Aufeinanderfolge die Prioritäten. Unbezweifelbar steht am Anfang die Musik, die hier das Sagen hat. Und die wird in Zürich auf das Prächtigste bedient, dafür sorgt schon William Christie, internationale Rameau-Autorität Nummer eins. Dafür sorgt weiter das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra ‚La Scintilla‘ der Zürcher Oper, dafür sorgen die exquisiten, wenn auch qualitativ unterschiedlichen Sängersolisten, dafür sorgt mit Nachdruck der aus Paris importierte Choeur Les Arts Florissants.
Was also ist ein Opéra-ballet? Ein Zwitter, ein Hermaphrodit – ein Gesamtkunstwerk – die beste aller Theaterwelten! Keine leichte Aufgabe, die einzelnen Gene auseinander zu sortieren. Dafür sorgen Heinz Spoerli als Regisseur und Choreograf, mit Hans Schavernoch (Bühnenbild), Jordi Roig (Kostüme) und Jürgen Hoffmann (Lichtgestaltung) als Kollaborateure, mit dem Zürcher Ballett (inklusive dessen Junioren). Hier kommt alles auf die richtigen Proportionen an: nicht zu viel psychologisierend hinterfragende Opernregie, aber auch keine selbstgefällige Virtuositätschoreografie.
Der Schulterschluss ist Spoerli gelungen: er arrangiert die Sänger in dekorativen Posen, verlangt ihnen ein Minimum an Bewegungen ab und lässt sie im Übrigen das tun, was sie am besten können, nämlich singen. Er arrangiert sein reich gegliedertes Sortiment an Tänzen, zusammengehalten durch die Erotici-Knaben (Delegierte der Liebesgöttin L'Amour – wie die drei Knaben aus der „Zauberflöte“, aber doch schon in einem weit fortgeschrittenen Pubertätsstadium und also ganz schön sexy). Er gibt den einzelnen Entrées (das sind die fünf Bilder: Prolog, Türkei, Peru, Persien und ein französisch kolonisiertes Indianer-Reservat) jeweils eine eigene Bewegungsidiomatik, nicht einem ethnografischen Historizismus verpflichtet (den ja auch die Musik nicht kennt), sondern als ein tollkühner Mix aus Klassik, Historie, Folklore, Sport, Modern Dance (auch der historischen Art: Loïe Fuller etc.) – nennen wir das Ganze einfach Swiss Classic. Immer der Musik gehorchend. In relativ einfachen, klaren Linien und massiven Corps-Formationen, leicht überschaubar, nicht ohne schmunzelnde Akzente.
Manches scheint mir nicht ganz verständlich: der Zwischenvorhang mit dem Eiffelturm, der unvermeidlich eine Offenbachiade erwarten lässt ... die Flaschenpost der Türken ... der Wechsel des Inka-Bildes zur Turbinenhalle anstelle des Vulkan ... der ziemlich verkrampft arrangierte Geschlechtertausch im persischen Bild ... die Spiral-Toupierungen der Damen im Blumenbild ... Doch das tut nichts zur Sache, zumal da alle mit so ansteckender Gutgelauntheit bei der Sache sind. Und so fliegen diese 220 Vorstellungsminuten wie im Nu vorbei, leicht und graziös und einfach ganz wunderschön anzuhören und anzusehen auf Rameaus duftigen Klangwolken. Einfach hinreißend!
Zwei Tage zuvor hatten Intendant Alexander Pereira und Spoerli ihre Planungen für die Spielzeit 2003/04 bekannt gegeben. Sie sehen drei Ballettpremieren vor: am 7. September 2003 die Vervollständigung der Bach-Cello-Suiten unter dem Titel „In den Winden im Nichts“, am 1. November 2003 „Hommage à Balanchine“ zu dessen 100. Geburtstag („Rubies“, „Theme and Variations“ und eine Uraufführung von Spoerli, „Chaton“) und am 3. April 2004 von Jiří Kylián „Petit mort“, von Paul Lightfoot und seiner Frau Sol Leon noch nicht nominierte Choreografien und von Spoerli eine Uraufführung.
Kommentare
Noch keine Beiträge
Please login to post comments