Ralf Rossas „Schlafes Bruder“ als Balletturaufführung

Gefühle von vulkanischer Eruptivkraft

Halle, 27/04/2004

Hart und karg ist das Leben in der grandiosen Einöde des österreichischen Hochlands, dort, wo Robert Schneider seinen Romanobelisken „Schlafes Bruder“ aufrichtet. Unter der Oberfläche scheinbarer Gleichmut und religiöser Ergebenheit brodeln indes Gefühle von vulkanischer Eruptivkraft. Just die an jenem gottverlassenen Flecken mit verzweiflungsvoller Unentrinnbarkeit jäh aufschießenden Emotionen sind es, die nach Joseph Vilsmeiers bildmächtiger Verfilmung des Stoffes nun auch den Tanz auf den Plan rufen. Choreograf Ralf Rossa beweist in Halle den Mut der Vorwärtsattacke – und gewinnt dabei auf ganzer Linie. Klug reduziert er das gewaltige Epos auf den tänzerisch ausdrückbaren Kern: Johannes Elias Alders musikalische Naturbegabung tritt zurück hinter die Urgewalt der Liebe und seine Unfähigkeit, sie in dieser Welt auszuleben. Rossa verstärkt zudem Elias' Konflikt, von zwei Menschen, Elsbeth und deren Bruder Peter, leidenschaftlich begehrt zu werden. Mit soviel Zündstoff setzt der aus Gelsenkirchen gebürtige, seit 1999 an der Saale mit Klassikern in heutiger Lesart sowie zahlreichen Uraufführungen erfolgreiche Ballettchef die Szene wahrhaft in tänzerischen Brand.

Von 23 exemplarischen Romanzitaten hat sich Rossa zu einer Abfolge eindringlicher Bilder inspirieren lassen, die im Verein mit Matthias Hönigs gleichsam begrenzender wie wandelbarer Bühne, Götz Lanzelot Fischers derben Kostümen und der wie angegossen passenden Collage aus Kompositionen des Kroaten Goran Bregovic zu einem pausenfreien hundertminütigen Monolithen verfließen. Gleich die Einleitung verströmt beklemmende Düsternis. Unter zuckendem Gewitter bäumen sich in einem beengten Bretterverhau kauernde schwarzverhüllte Frauen mit wirrem Haar im Kreisschmerz auf, ehe ihren weiten Röcken stramme Jungen entquellen. Nur unter Qualen kommt indes Elias zur Welt und entfacht schon als Knabe den Streit der Eltern. Im Wald aus herabhängenden Baumstämmen spielt er mit den Tieren, vermag mit ihnen zu sprechen. Bei den Menschen ist der rätselvolle Außenseiter weniger beliebt. Auch der visionäre Engel, der ihn in die Pubeszenz ruft, kann ihn nicht mit den anderen gleich machen: Eine grüne Binde vor den Augen wird Elias lange stigmatisieren und dem Angriff der Dorfjungen aussetzen. Einzig Peter ist dem verängstigten Sonderling in naiver Liebe zugetan: Ihre Körper schubbern sich wie Tierkinder aneinander, geraten über- und untereinander, die Münder finden sich zum ersten unschuldigen Kuss, derweil oben, auf einem Podest, Elsbeth geboren wird, des Elias wahre Bestimmung. Da scheint in seinem Herzen kaum Platz mehr für Peter.

Nach einem furiosen Tanz mit fliegenden Röcken geißeln sich die Dörfler beim sonntäglichen Gebet verzückt im Angesicht einer Strahlenmadonna. Elias’ Solo berührt alle. Plötzlich lodert hinter der Heiligen die über dem Ort liegende Feuersbrunst auf, die Peter in seiner Not entfacht hat. Elias rettet Elsbeth zwar, vermag sich der Dankbaren aber wieder nicht zu erklären. Aus dem Tanz der beiden wird ein Trio, bei dem Peter die Schritte der Frau aufnimmt und an ihre Stelle zu gelangen versucht. Beim Dorffest verkuppelt der eifersüchtige Peter seine Schwester mit Lukas. Das anschließende Quartett, bei dem sich die aufwallenden Gefühle wie Fäden unauflöslich um die vier schlingen, gehört von der choreografischen Erfindungskraft, ihren intimen Momenten und Bezüglichkeiten zu den Höhepunkten des Abends. Zu einem wilden Taumel gerät die Hochzeit von Elsbeth und Lukas, mit artistischen Einlagen, wie man sie aus der Folklore kennt. Meisterlich wieder die emotionale Unterschiedlichkeit der beiden parallelen Duette: Erfülltheit zwischen den Hochzeitern, vergeblich die Werbung Peters um Elias, dessen Sehnen der Braut gilt. Wie einst Ikarus stürzt er ab in eine andere Welt: „Wer liebt, schläft nicht“, lautet fortan seine Devise. Peters unverbrüchliche Zuneigung, die sich in der Schwärze des leeren Raums letzten Ausdruck in einem verzehrenden Liebesduett schafft, mit Wurfhebungen wie beim Eiskunstlauf und Ziehen im Spagat, kann Elias nicht trösten. Freiwillig lässt er sich an einen Baum fesseln und erleidet dort schlaflos den Liebestod. Über Elsbeths fiktivem Dialog mit Elias an seinem nunmehr leeren Sterbebaum verschwebt unter dem Lachen und Weinen der Schwangeren auch die Musik ins Universum.

Welchen klaren Bogen Ralf Rossa vom Beginn bis zu dem in seiner Schlichtheit prägnanten Schluss zu spannen versteht, welch zauberische Atmosphäre er über die Geschichte zu breiten vermag, wie kunstreich er wiederum Figuren und ihre Gefühle zu verflechten weiß, das macht „Schlafes Bruder“ zu einem bewegenden Knüpfwerk von dichter Struktur und einer oft rustikalen Textur. Die per Band laufende Balkanfolklore des Goran Bregovic, melancholisch oder auffackelnd, als Rumsbumsdisko, Klingklang, Schrammel oder Schlagerchanson, mit schluchzender Klarinette, schmachtender Geige oder schmetterndem Blech, ist ebenso wenig auf einen Stil zu fixieren wie Rossas Tanzsprache. Souverän zwingt der Choreograf sein Gemisch aus Klassik, Folklore, Jazz, Groteskgestik und freier Gestaltung in den Dienst einer einheitlichen Aussage. In Antje Fehér als expressiver Elsbeth, dem jungen Yann Revazov als hingebungsvollem, technisch exzellentem Peter und, vor allen, einem überragenden Michal Sedlacek in der physisch zehrenden Titelpartie stehen Rossa Solisten von Format zu Gebote. Selbst in ihren dunkeltönigen, erdschweren Kostümen sind sie und das Ensemble leuchtend und leicht anzusehen.

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