Zwischen Routine und Trockaderoklamauk

Malakhovs „Cinderella“ aus Berlin

Berlin, 08/03/2004

So ergeht es einem manchmal als Kritiker: Man möchte den Mut zur neuen Lesart eines bewährten Stoffes honorieren, kollidiert dabei aber mit dem Bühnenerlebnis, das letztlich nur zählen kann. Aus dem Nebel dieses Spannungsverhältnisses speist sich am Ende das künstlerische Urteil. So geschehen mit Vladimir Malakhovs „Cinderella“, seiner ersten Neuproduktion für die Berliner Lindenoper. Seit der Moskauer Uraufführung von 1945 gastiert das liebvertraute Aschenbrödel auf nahezu allen Bühnen der Welt und verträgt daher durchaus eine aktualisierende oder auch „nur“ anders akzentuierende Uminterpretation. Malakhov, Tänzer vom Scheitel bis zur Schläppchensohle, verlegt „seine“ Geschichte vom erniedrigten und deshalb schließlich erhöhten Mädchen ins Ballettmilieu und nimmt bei diesem Transfer auch die übrigen Gestalten des Originallibrettos mit.
Cinderella würde gern die Hauptpartie der gerade vorbereiteten Inszenierung tanzen; die Directrice, giftig wie eine Stiefmutter, favorisiert indes zwei aufgedonnerte, überdrehte Solistinnen, genäschig die eine, trinkfreudig die andere, beide knallbunt und mäßig begabt. Nur der Ballettmeister alias Vater und die alternde Ballerina alias gute Fee protegieren das aschgraue Kind. Im Traum erfüllt sich für Cinderella der ersehnte Wunsch: Der Prinz erwählt sie auf seinem Ball, sehr zum Ärger des Trios infernale aus Directrice und ihren papageienhaft herausgeputzten Schützlingen. Am folgenden Tag widerfährt der Fassungslosen, was sie nur geträumt glaubte: Der Gaststar bestimmt sie allen Rankünen zum Trotz zu seiner Partnerin. Nach der Vorstellung Gratulation des Ensembles, Teerosen von der gütigen Ballerina-Fee – und für Cinderella im Applaussturm wohl schon eine Ahnung von der Einsamkeit an der Spitze des Erfolgs.

Was sich flott, süffig und schlüssig liest, wartet in der choreografischen und szenischen Umsetzung mit allerlei Tücken auf. Dass Malakhov die dreiaktige Partitur auf zwei Akte eindünnt, unter Verzicht etwa auf die unterhaltsame, kurzweilige Weltreise des Prinzen und die Schuhprobe, mag noch angehen. Seine Begründung, der Prinz suche die Entschwundene schließlich nicht des Schuhs wegen, sticht nicht – der Schuh steht stets nur als Wiedererkennungsmerkmal für den geliebten Menschen. Schwerer wiegt, dass sich Prokofieffs blühende Musik im nüchternen Ambiente eines hoch aufragenden, kahl cremefarbigen Ballettsaals entfalten muss und so akustisch immer wieder die Grenzen von Jordi Roigs Bühnenbild durchdringt. Als Hauptschwachpunkt der Inszenierung erweist sich jedoch die Anlage der beiden eifernden Pseudoballerinen, englischer Aufführungspraxis seit Ashton folgend, mit Männern. Malakhov platziert die zwei Farbkleckse fast durchgängig im Vordergrund, was alle Aufmerksamkeit auf sie lenkt, ohne ihnen eine reale genrespezifische Funktion zu geben. Für derartige Schrapnells stünden im harten Alltag die Ballettsaaltüren dieser Welt nur zum Gehen offen. Was die Gelegenheit zu wirklich berufsnahen Persönlichkeitsstudien geboten hätte, versackt in Tuntengetue und Trockaderoklamauk. Allzu wohlgefällig machen es sich die beiden Darsteller, Malakhov selbst mit einem neckischen Picknickkörbchen und Roland Savkovic mit einem groß geratenen Flachmann, in ihren Rollen bequem, ohne Verfremdung, Überhöhung, Abstand oder gar Ironie. Dass sie im 1. Akt ordentliche Spitzentechnik servieren, um im Traumbild unter wippenden Puscheln respektive rotem Margeritenhut auf höchsthackigen Pumps über die Szene zu stakeln und zu stolpern, und dass sie im Schlussteil in ihrer übereifrigen Rivalität zu Cinderella einige amüsante Gags liefern, macht das Gesamtdebakel nicht wett.

Der Gruppe fallen in Akt 1 zunächst eher spielerische Aufgaben zu. Roig steckt sie dazu in ein knappes, dunkeltöniges Trainingsdress. Die Verwandlung durch Öffnen und Klappen der Studiowände führt in eine Revuewelt mit Showtreppe und reichlich Lämpchengirlanden. Die vier Feen, assistiert von Kavalieren in betont schmaler Silhouette, haben darin ihre Variationen. Akt 2 bietet endloses Warten auf die Wundererscheinung, dann den großen Gruppenwalzer mit einverwobenem Pas de deux. Manches an den Formationen nach dem kanonischen Prinzip schafft Bewegung im Raum, teils durch raffiniert wechselnde Gänge statt durch Tanz; vieles allerdings funktioniert nach routiniert verfertigten Mustern, wie sie ein weltläufiger Tänzer vom Range Malakhovs im Kopf und im Körper trägt.

Bleibt die Freude an den Solisten, und die ist in der Tat ungetrübt. Schwer hat es eingangs das mausgraue Aschenbrödel, sich gegen die aufdringlichen Schwestern-Ballerinen zu behaupten. Wenn ihr das gelingt, dann durch alle Segnungen einer erkennbar werdenden Ballerina: den langgliedrigen, ideal proportionierten Körper, blitzsaubere Arm- und Fußtechnik, mühelos über die Szene gleitenden Tanz von bestechender Linie. Vor Polina Semionova, der gerade 18-jährigen Russin, und auch vor ihrem hoch gewachsenen Partner und Landsmann Artem Shpilevsky, sprunggewaltig, drehsicher und hebemächtig, ein wahrhaft edler Prinz, dürften noch viele Hauptpartien liegen. Als Dritte im Bunde firmiert Beatrice Knop, eine reife, bühnenwirksame Darstellerin mit stupendem Können und beispielhafter Entwicklung, der man das Doppel aus beseelt fördernder Ballerina und Fee mittlerweile unbesehen glaubt. Der sichtbar verjüngten Gruppe von homogener Ausstrahlung darf das Solistentripel als Vorbild dienen. Wenn das Finalbild, die unterm unhörbaren Beifall blumenbeladen und fast betroffen niederknieende Cinderella, seine Wirkung beim Betrachter nicht verfehlt, zumal in der betörenden Klangkulisse, wie Vello Pähn sie mit der Staatskapelle abendlang entstehen lässt, dann stellt sich zuletzt doch noch etwas von Märchenzauber und Glücksgefühl ein.

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