Abschied mit „Finissage“
Der deutsche Ausdruckstanz verliert seine treueste Truppe - Das Tanztheater Münster wird aufgelöst
Es wurde aber auch Zeit! Seit fast zehn Jahren wirkt Daniel Goldin an den Städtischen Bühnen Münster und hat dort mit seinen Tanztheaterproduktionen regelmäßig überlokale Aufmerksamkeit auf sich gezogen (und sich sogar ein eigenes Kapitel in Jochen Schmidts „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts“ verdient). Jetzt hat ihn der rührige Christoph Peichl erstmalig ins Ludwigsburger Forum am Schlosspark eingeladen und damit fürs hiesige Publikum eine Informationslücke geschlossen: Goldin, Jahrgang 1958, ist Argentinier und dort zuerst mit dem modernen Tanz deutscher Herkunft (via Renate Schottelius, einer Schülerin von Mary Wigman) in Berührung gekommen. Entscheidende Impulse hat er an der Essener Folkwangschule erhalten, wo er auch seine ersten Studioarbeiten choreografiert hat und dann seit 1996 mit seinen Kammerballetten (Pardon!) für vier plus vier Tänzerinnen und Tänzer in Münster neben Pina Bausch, Susanne Linke und Christine Brunel in Wuppertal und Essen zu einer der kreativsten Tanzpersönlichkeiten in Nordrhein-Westfalen gereift ist.
Nach Daniela Kurz in Stuttgart und Nürnberg und John Neumeier in Hamburg hat sich Goldin auf Franz Schuberts „Winterreise“ eingelassen, den Liederzyklus aus dem Jahr 1827, ein Jahr vor Schuberts Tod. Allerdings nicht wie Kurz und Neumeier auf die radikal vergegenwärtigende Version von Hans Zender, sondern auf das Original – mit einem Perspektivwechsel, indem er ihn zu drei verschiedenen Interpretationen, eingespielt von Peter Anders, Brigitte Fassbaender und Christoph Prégardien, tanzen lässt. Ohne dass der Sängerwechsel sonderliche choreografische Konsequenzen bewirkt hätte – und, für einen modernen Choreografen fast selbstverständlich, ohne jegliche illustrativen Ambitionen hinsichtlich der Textbezüglichkeit. Dafür hat er sich der Schubertschen Deklaration als „Zyklus schauerlicher Lieder“ umso mehr verpflichtet gefühlt.
Zustande gekommen ist, von Goldin selbst so bezeichnet, „Eine Choreografie zur Musik von Franz Schubert“ – 24 nahtlos in einander übergehende Szenen, rund achtzig Minuten lang. Es sind Stationen einer Reise im Grenzland des Todes, tänzerische Monologe einer zunehmenden Vereinsamung, denn wenn auch die acht Ausführenden zumeist auf der wie in einen weißen Käfig eingesperrte Todeskandidaten präsent sind, so gibt es doch keinerlei Kommunikation zwischen ihnen, selbst wenn sie sehr gelegentlich körperlichen Kontakt miteinander haben. Umso enger ist ihr Kontakt zur Musik. Und das ist die Überraschungsentdeckung des Abends, wie Goldin als eine Art choreografischer Ingenieur die Seele der Musik erkundet.
In tänzerischen Sequenzen von überwältigender Reinheit, Klarheit und – ja , man muss es so sagen: ästhetischer Schönheit. Und so wird der Tanz zu einer Reflektion der Seele Schuberts im Augenblick des Abschiednehmens von einer Welt, deren existenziellen Ansprüchen er nicht gewachsen war. Eine so synergetische Verbindung zwischen Musik und Tanz erlebt man höchst selten – das geht auch noch über die sprichwörtliche Musikalität der Choreografien etwa von Balanchine hinaus, indem sie nicht nur die motorischen und strukturellen Parameter der Musik in Tanz transponiert, sondern deren Qualität in eine eigene Sprache übersetzt. Die von den Tänzerinnen und Tänzern inzwischen nicht nur als eine Art Münsteraner Dialekt, sondern als ihre Muttersprache getanzt wird. Es wäre wirklich ein Jammer, wenn dieses so ganz und gar eigengeprägte tänzerische Tanztheater, wie angedroht, den Sparmaßnahmen zum Opfer fiele.
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