Unterkühlte Atmosphäre des Unsteten

„Chopin“ als Ballett mit Brieflesung in Görlitz

Görlitz, 17/05/2005

„Giselle und Nussknacker kommen immer wieder ins Theater. Und Sie?,“ appelliert eines der Plakate rings ums Haus an das potenzielle Publikum. Derzeit ist Chopin Gast im Görlitzer Musentempel. Dorthin geholt hat ihn der seit 1992 amtierende, bienenfleißige Ballettchef Franz Huyer: als verbalen und musikalischen Stichwort-spender eines zweistündigen Ballettabends. Eigentlich war „Chopin“ für das Dom Kultury jenseits der Neißebrücke geplant, als Koproduktion mit der polnischen Seite der flussgeteilten Stadt. Widrige Umstände ließen das gemeinsame Projekt jedoch scheitern und siedelten das Stück nun im Görlitzer Theater an. Ungewöhnlich: Die Zuschauer sitzen mit auf der Bühne, erleben Kunstausübung hautnah.

Als Streifzug durch das Leben des Polen Chopin hat der Österreicher Huyer seine Kreation konzipiert. In Briefzitaten, gelesen von dem Bariton Florian Hartfiel, klingen Stationen und Befindlichkeiten des sensiblen Komponisten an. Über seine Reisen, die Ungewissheit der Zukunft und sein Unentschlossensein philosophiert er, mokiert sich über Dummköpfe in Paris und langweilige Ladies in Schottland, schwärmt von der Natur in Palma, beklagt die Niederlage des Warschauer Freiheitskampfes. Mit einer „unheilvollen Dame“, George Sand, rechnet er nach acht gemeinsamen Jahren ab: „Was gewesen ist, wird vergessen“. Auf die Freude des Wiedersehens mit den Eltern, auf den „Höhepunkt meines Glücks“ folgen Mattigkeit, Krankheit, Übersiede-lung nach Paris, Tod. Eine geballte Existenz, reich an Erfolgen, Fluchten, Selbstzweifeln. Keine leichte Aufgabe für den Tanz.

Huyer als sein eigener Ausstatter stellt ihn auf schräg liegenden blauen Boden, rahmt ihn zweiseitig durch zuziehbaren, durchsichtigen Tüll, ordnet diagonal einen weiteren Vorhang an. Linien kreuzen sich allenthalben. Im Hintergrund steht das Piano, sitzt der Cellist. Daneben teilen sich Bariton und Mezzosopranistin ein elegantes Liegemöbel, lagern Tisch, Fläschchen, Koffer als Requisiten eines unbehausten, rasch zusammenraffbaren Lebens. In diese Atmosphäre des Unsteten hinein webt sich fein, melodietrunken oder kraftvoll Chopins Musik: Scherzi, Mazurken und Walzer, Etüden, Nocturnes, Sätze aus Cellosonaten und Lieder, gesungen in Polnisch oder Deutsch. Bekanntes trifft auf weniger Geläufiges. Diesem Ansturm an Konkreta um die Person des Komponisten sucht der Choreograf durch rein sinfonischen Tanz zu entkommen. Keine Zuordnung also von Charakteren, alle Tänzer im gleichen, leuchtend blauen Trikot.

Es sind lediglich Stimmungen, die in dieser Konstellation gelingen können. Durch den veränderbaren Tüll entstehen ständig neue Räume auch für den Tanz. Huyer lässt vor und hinter dem Stoff tanzen, schafft Schatten und Schemen für die Interpreten im Vordergrund. Bisweilen kommt es zu flüchtigen Begegnungen der Gestalten, einem kurzen Doppelduett. Einzig in den Soli, wenn etwa ein Mädchen schmetterlinghaft umherflattert, schimmert Individualität auf, decken sich Text, Musik und Tanz. Huyer ist der begnadete Bewegungserfinder nicht, um aus dem rein körperlichen Gestus innere Situationen äußerlich nacherlebbar zu machen. So bleibt der Tanz in seinem neoklassischen, hebereich akrobatischen Zuschnitt eher Ranke, Ornament als Ideenträger oder Handlungselement. Neben stockendem Fluss und einer manchmal wenig einsichtigen Raumnutzung ist es der Mangel an Emotionalität, der den Tanz entrückt und isoliert erscheinen lässt.

Die fünf Tänzerpaare, gut anzu-schauen, technisch versiert, sind stark an die vorgegebene Form gebunden und wirkten wegen der entblößenden Dichte zum Zuschauer bei der Premiere irritiert. Ob Abstand nicht dem ganzen Abend Gewinn brächte, sei dahingestellt. Dank der präsenten Mezzosopranistin Ewa Krzak, der vielseitigen Pianistin Ewa Zacharczyk-Kowal, die Spezialarrangements beisteuerte, dem filigran aufspielenden ukrainischen Cellisten Roman Samostrokov und einer Tänzermannschaft von Brasilien bis Japan ist der Görlitzer „Chopin“ dann doch so international wie die Musik des Namensgebers.


Nächste Aufführungen: 19.+26.5., 2.6.
Kartentel. 03581/474747
Link: 
Theater Görlitz 

 

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