Verzweifelt, aber mit Eleganz

Das Béjart Ballet Lausanne gastierte in Ludwigshafen

Ludwigshafen, 27/11/2005

Mit 78 Jahren ist der ehemalige Tanz-Revolutionär ist heute schon fast wieder out, und auch dem Menschen Maurice Béjart merkt man plötzlich sein Alter an, wenn er sich am Ende einer Aufführung verbeugt. Eine Woche lang gastierte das Béjart Ballet Lausanne bei den neuen Festspielen Ludwigshafen, die der Intendant Hansgünther Heyme in der Chemiestadt ins Leben gerufen hat. Ähnlich wie bei „movimentos“ in Wolfsburg wird der Tanz auch im Theater im Pfalzbau von der Industrie gesponsort, in diesem Fall von BASF. Béjart, dem ehemaligen Enfant terrible des Balletts, fiel bei den neuen Festspielen so etwas wie die Rolle des Klassikers zu.

Seine Kompanie präsentiert sich deutlich verjüngt, athletisch, schnell und technisch virtuos, was die jungen Tänzer vor allem im Ballett „L'art d'être grand-père“ beweisen, dem neuesten der in Ludwigshafen gezeigten Stücke. Stéphane Bourhis tanzt darin im Trenchcoat und mit einer hohläugigen Maske auf dem Hinterkopf den geheimnisvoll-strengen Grand-Père, den Ballettmeister, der die jungen Tänzer herumscheucht - eine klassische Béjart-Metapher. Das Ensemble aber pfeift auf ihn und seine Ballettstange, um sich mit virtuosen Einlagen und einer unbändigen Lust am Tanzen seinen Spaß zu machen.

Das heitere, jugendfrische Stück entstand 2004 als Kollektiv-Choreografie der Kompanie und ihres Direktors. Obwohl die Kompanie so jung ist, bleibt ihr der gewisse Béjart-Touch erhalten - viele Tänzer schminken sich immer noch die Augen so auffällig wie einst Jorge Donn, selbst die Beleuchtung mit ihren satten Farben und den Blättermotiven auf dem Boden scheint noch aus den Siebzigern zu stammen (da sind Choreografen wie Forsythe, Bigonzetti oder McGregor heute Licht-Jahre weiter). Béjart ist in seiner eigenen Welt verhaftet, und vor der aktuellen Entwicklung zur abstrakten, rasanten Ballettmoderne mögen manche seiner Stücke ein wenig nostalgisch wirken, denn er weigert sich noch immer hartnäckig, auf Pathos oder gar Inhalt zu verzichten.

Weiterhin bezieht der belesenste unter den lebenden Choreografen seine Inspiration aus Philosophie, Literatur und Kunst, sein Ballettsaal sind die großen Gedankengebäude von Wagner und Nietzsche bis zum Mystizismus und den fernöstlichen Philosophien. Der Franzose ist so etwas wie der Choreograf des Existenzialismus, der bei allem Nihilismus stets das Vokabular des klassischen Tanzes als Grundlage bewahrt - „verzweifelt, aber mit Eleganz“, wie es in einem der Chansons aus seinem Stück „Brel et Barbara“ heißt.

Als Destillat aus dem Abendfüller „Lumière“ entstand dieses Werk im Dezember 2001. Zu Chansons der beiden französischen Sänger-Legenden tummelt sich ein Panoptikum aus verschiedenen Figuren und Geschichten auf der Bühne, später bewegen sich die Tänzer in merkwürdigen Ganzkörperhüllen wie gelbe Riesenamöben. Gil Roman und Elisabet Ros verkörpern in einer Art platonischen Liebesbeziehung die Titelgestalten. Roman, der älteste und ausdrucksvollste der Béjart-Truppe, verblüfft noch immer durch seine Leichtigkeit und Schnelligkeit; mit seinem Wissen um jede Bewegung, mit jedem sprechenden Blick führt er vor, was den jungen Béjart-Tänzern noch alles fehlt. Umringt vom sinnlich-gefährlichen Männer-Corps zelebrierte Elisabet Ros den Béjart-Klassiker „Boléro“ als Ausbruch eines Vulkans hinter ihrer göttinnengleichen Unnahbarkeit - eleganter als die extatische Interpretation eines Jorge Donn, vielleicht auch kühler, aber ungemein spannend zur Steigerung von Ravels Musik.

Das zweite Programm brachte die Wiederbegegnung mit drei älteren Stücken. „Bhakti“ mit seinen drei indischen Götterpaaren stammt aus dem Jahr 1968 und muss mit seinen meditativen Elementen, mit den langen weißen Hemden und Hosen den damaligen Hippies gut gefallen haben. Dennoch wirkt das Adagio-Ballett mit seinen Finger- und Armhaltungen aus der indischen Mythologie heute nicht veraltet, eher wie ein Ritual. „Serait-ce la mort?“ ist nur zwei Jahre älter und wurde nach der letzten Zeile der „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss benannt, „Ist dies etwa der Tod?“. Wie in so vielen Béjart-Balletten tritt auch hier eine Todesfigur auf: eine der vier Frauen, mit denen der Solist tanzt.

Am intensiven Julien Favreau und den vier Tänzerinnen lag es nicht, dass dieses Ballett ein wenig zu abstrakt und, für die exaltierten Béjartschen Maßstäbe, introvertiert wirkt - und das ausgerechnet zur träumerisch-pathetischen Musik der „Vier letzten Lieder“. Die halbstündige Version von „Wien, Wien nur du allein“ wirkt wie ein schemenhafter Abglanz der abendfüllenden Fassung, die 1982 mit Marcia Haydée und Jorge Donn in Brüssel uraufgeführt wurde und in den neunziger Jahren auch im Repertoire des Stuttgarter Balletts war. Ohne Bühnenbild, ohne die hoffnungslose Atmosphäre des düsteren Backsteinverlieses vermittelt das Stück nur eine Ahnung vom Weltuntergangsszenario, zu dem der Choreograf hier vierzehn Gefangene einschließt. Die Handlungsfetzen aus „Lulu“, von Schnitzler oder Musil sind kaum mehr erkennbar; ohne die Musik von Schubert, Mozart und Haydn gibt es einen Wiener Totentanz im Schnelldurchlauf.

Zur finalen Massenszene, in der Béjart die gesamte „Schöne blaue Donau“ von Johann Strauß vertanzt, schwebt der blaue Himmel als großes Gemälde hernieder, als reines Zitat, und die Engel tanzen mit den Eingeschlossenen. Auch hier sehen wir wieder die typischen Béjart-Gesten: die ins Leere flehenden Hände, der letzte Blick nach hinten, bevor man sich ins Unvermeidliche fügt, der bittersüße Tanz mit dem Tod. Bei allem Verhaftetbleiben in seinem eigenen choreografischen Mikrokosmos: Béjarts Ballette bezwingen nach wie vor durch den unbedingten Willen ihres Schöpfers, sich nicht einfach mit den Möglichkeiten des Tänzerkörpers oder der Zertrümmerung des Althergebrachten zu beschäftigen, sondern mit den großen Fragen der Kunst, der Philosophie.

Außer Gil Roman und Elisabet Ros aber fehlen ihm nun die starken, wirklich eindrücklichen Tänzerpersönlichkeiten dazu. Wohl hat er einige aufregende Solisten - der schöne Julien Favreau, die stolze Catherine Zuasnabar, Victor Jimenez oder Domenico Levrè, auch der kleine, technisch superbe William Pedro als virtuoses Intermezzo im „Wien“-Ballett. Aber gerade in „Brel et Barbara“ oder in „Wien, Wien, nur du allein“ gab es manchmal erschreckend harmlose Auftritte, die den Stücken eher schadeten als dienten. Sind die dramatischen Tänzer ausgestorben?
 

Links: www.bejart.ch / Festspiele Ludwigshafen
 

 

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