Goecke geht nach Basel
Marco Goecke folgt dort planmäßig auf Adolphe Binder
Die staatstheatralischen „Grenzgänger“ bei der Tanzplattform
Die beiden großen Namen aus Berlin, Sasha Waltz und Meg Stuart, enttäuschten im größten Saal des Theaterhauses milde bis bitterlich, und das tat teilweise auch der Abschlussabend „Grenzgänger“, zu dem erstmals bei einer Tanzplattform auch die Staatstheater eingeladen waren. Daniela Kurz hatte aus Nürnberg fernöstliche Rituale aus „Im Auge des Kalligraphen“ mitgebracht, eine von Lin Hwai-Mins langsamen Bewegungen beeinflusste Choreografie mit schönen Bildern voll Ruhe und Gemessenheit - etwa das Entstehen von Schriftzeichen durch die losgelösten meterlangen Hosen der Mitwirkenden, die Verwandlung zweier Körper in malende Pinsel auf dem Untergrund der weißen Tanzfläche.
Exemplarisch führte der Abend aber auch das vor, wogegen die zeitgenössischen Choreografen seit Jahrzehnten wütend antanzen, nämlich die hübsch arrangierte Beliebigkeit, in diesem Fall von Kevin O'Day aus Mannheim. Der Ausschnitt aus „Robert, Richard & Johann: Per Du mit drei deutschen Meistern“ fällt gegen frühere, weit modernere Arbeiten des Mannheimer Ballettchefs derart ab, dass man um dessen kreative Zukunft zu fürchten beginnt. Es sieht aus, als hätte ihm sein Intendant gesagt „Jetzt machst Du aber mal was fürs Publikum“. Wie die viel zu lange Belanglosigkeit zu Bach-Musik unter die gestrengen Augen des dreiköpfigen Tanzplattform-Kuratoriums passieren konnte, bleibt ein Rätsel - eine maliziöse Absicht wagt man ja nicht zu unterstellen.
Marguerite Donlon aus Saarbrücken hatte eine ausgeflippte Heiterkeit namens „Blind Date“ im Gepäck, mit irischer Folklore und der Andeutung einer Handlung von der titelgebenden Verabredung mit einer blinden Frau. Mit dem Einsatz von Sprache, Projektionen und Live-Musik unterschied sich das Stück der äußerlichen Form nach gar nicht so sehr von anderen Beiträgen der Tanzplattform. Anders als O'Day spielte die Saarbrücker Ballettchefin wesentlich freier und origineller mit der Notwendigkeit, ein größeres und anderes Publikum erreichen zu müssen als die Künstler der freien Szene.
In seinem kürzesten Beitrag hatte der „Grenzgänger“-Abend endlich auch das, was den modernen Performern in den fünf Tagen davor oft komplett fehlte: neuen Tanz. Denn immer weiter scheinen die anderen Künste den zeitgenössischen Tanz aufzufressen, die Flucht in Sprache, Installation, Projektion, Computertechnik ist unaufhaltsam. Mit Marco Goecke zeigte ausgerechnet ein Staatstheatralischer, nämlich der Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, was man von einer Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Tanzes eigentlich - vielleicht vermessen? - auch erwartet hatte: das Ausdrücken einer inneren Befindlichkeit durch den Tanz alleine, die Entwicklung von Kreativität in den Bewegungen, nicht nur in ihrer Inszenierung. Im nervösen Timing, in der Kombination der Anspielungen, in seinem unendlichen Einfallsreichtum an Gesten, Zitaten und neuen Bildern ist Goeckes Spiel mit den Assoziationen so viel spannender und dichter als alles, was in den fünf Tagen in Stuttgart an Tanz (im Sinne von bewegten Körpern) gezeigt wurde.
Interpretiert wurde das Solo „Äffi“, entstanden zur Musik von drei Johnny-Cash-Songs, durch William Moore, einen zwanzig Jahre jungen Tänzer des Stuttgarter Balletts, der hier wie eine Supernova aus dem Corps de ballet in die Höhe schoss. Exemplarisch für alle Mitwirkenden dieses Abschlussabends zeigte er die hohe Kunst der klassisch ausgebildeten Tänzer, die eben nicht nur schön und sauber ihre Posen machen, sondern im modernen Ballett schon lange den Gegensatz von Schönem und Hässlichem verinnerlicht haben, die mit ihrer Schnelligkeit, ihren unglaublichen körperlichen Möglichkeiten nicht alleine virtuos, sondern sehr viel expressiver tanzen als viele der modernen Performer. So gesehen, erfüllte der „Grenzgänger“-Abend seine Aufgabe und bot reichlich Anlass zu kontroversen Diskussionen - und zum großen Finale auch noch den laut protestierenden Abgang eines ganzen Zuschauertrupps.
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