Goecke geht nach Basel
Marco Goecke folgt dort planmäßig auf Adolphe Binder
Wie ein übergeschnappter Weihnachtself wirkt das Wesen zunächst, das da zur Ouvertüre von Tschaikowskys „Nussknacker“ herumzappelt. Aber auf geheimnisvolle Weise passen die Bewegungen zur Musik, sie machen sich nicht darüber lustig. Der neue „Nussknacker“ des Stuttgarter Balletts ist keine Parodie, verleitet nicht ein einziges Mal zum lauten Herauslachen. 75 Minuten lang entführt uns Choreograf Marco Goecke in ein dunkles Märchenland zwischen Groteske und Poesie. Wie ein Kind an Weihnachten sitzt man im Kammertheater und entdeckt immer neue Überraschungen, man staunt und streckt den Hals, um auf der dunklen Bühne ja keines der vielen, vielen Bilder zu verpassen.
Michaela Springers Bühne ist ein riesiger Adventskalender, aber einer von der unheimlichen Art. An allen drei Seiten stehen große schwarze Schränke aufgereiht, und in jedem wartet im Lauf des Stücks eine neue Überraschung – ein Lichtermeer oder ein Spiegel, Süßigkeiten oder Christbaumkugeln. Bei manchen atmen die Türen von ganz alleine, und in anderen schneit es gar (natürlich ist bei Marco Goecke selbst der Schnee schwarz). Irgendwann ergießen sich Berge von schwarzen Walnüssen aus den Schränken auf die Bühne, und aus einem von ihnen purzelt auch der Nussknacker, den das Mädchen Klara von ihrem wunderlichen Paten Drosselmeier zu Weihnachten geschenkt bekommt.
Goecke erzählt tatsächlich die Handlung des alten Ballettklassikers von Marius Petipa, wobei er stärker auf die düstere Vorlage von E.T.A. Hoffmann zurückgreift. Auch Tschaikowskys Ballettmusik erklingt fast genau in der richtigen Reihenfolge, mit etlichen Kürzungen zwar und im kleinen Kammertheater natürlich vom Band. Aber obwohl Goecke sehr genau auf die Musik choreografiert und es nie so aussieht, als würde Tschaikowsky wie ein Soundtrack nebenherlaufen, haben weder sein assoziativer Erzählstil und schon gar nicht seine Bewegungen etwas mit dem guten alten „Nussknacker“ gemein. Vieles passiert über eine Entfernung hin: Wenn Klara links eine Schranktüre öffnet, dann öffnet sich rechts wie von Geisterhand auch eine, oder jemand bläst eine Kerze aus, die ganz woanders erlischt. Auch die Pas de deux wirken traumverloren und imaginär, weil sie oft ohne Anfassen stattfinden. Die Tänzer tanzen weit auseinander, parallel oder spiegelbildlich: Klara reicht Drosselmeier die Hand und er küsst sie zärtlich, dabei stehen sie zwei Meter voneinander entfernt und schauen sich nicht an. Wie zwei Kinder tasten sich Klara und ihr Nussknackerprinz vorsichtig ab und berühren sich dabei kaum, sie pusten sich an oder schubsen sich fröhlich.
Natürlich bleibt Goecke seinem nervösen, auf die Arme konzentrierten Bewegungsstil treu, natürlich bevorzugt er weiterhin die Überraschung als liebstes Stilmittel (und er beherrscht diese Kunst besser als jeder andere), aber sein „Nussknacker“ hat auch ruhige Adagio-Stellen und eine kindliche Unschuld, die das Stück mit einer märchenhaften, poetischen Aura umgibt. Wie immer stecken alle Tänzer in schwarzen Hosen, die Rollen sind nur durch wenige Kostümdetails angedeutet. Drosselmeier trägt eine Frisur aus bunten Smarties und eine riesige Schleife um den Hals, Klara trägt ihre Schleife auf dem Popo. Der große schwarze Hut ihres zaubermächtigen Paten rutscht ihr über den Kopf und macht sie blind. Mit solchen Bildern wie aus den Tiefen alter Kinderbücher geht es weiter: Ein riesiger, trauriger Plüschbär belauert einen Tänzer, eine exzentrische und gar nicht süße Schneefee grimassiert zum berühmten Schneeflockenwalzer, es gibt Mäuse, kleine Flämmchen und viele große Bärentatzen.
Goecke choreografiert selbst das Divertissement im zweiten Akt als ein solches, zu jeder Variation öffnet sich ein weiterer Schrank und enthüllt zu einem furiosen Solo sein Geheimnis. Mehr denn je erweitert der junge Wuppertaler Choreograf den Tanz durch Geräusche: Seine Tänzer knuspern, meckern, pfeifen und jaulen, leise Küsse und ein geflüsterter Kinderreim hallen durch die stille Nacht, Schellen und Schranktüren klappern, immer wieder kullern Walnüsse oder werden in der Hand aneinandergerieben. Die Hose des Nussknackers besteht aus Hunderten von Nussschalen, die bei jeder Bewegung wie ein Meer von Kastagnetten klingen.
Die Stuttgarter Tänzer brillieren nicht nur in Goeckes ungewöhnlichem Stil, sie profitieren auch ganz persönlich davon, vor allem Elena Tentschikowa als ernsthaftes Mädchen Klara, deren typisch russische Port de bras sich hier zu einer ganz eigenen, lyrisch-verspielten Sprache der Arme und Hände erweitert haben. Roland Havlica ist der versponnen grinsende Drosselmeier, eine Figur wie aus dem Struwwelpeter, Alicia Amatriain tanzt ihre schräge Schneefee mit der Vehemenz einer Lawine und William Moore – a star in the making – bezaubert als junger Nussknacker-Held. Auch die Corpstänzer beeindrucken in ihren zahlreichen Solos: Demis Volpi, Stefan Stewart, Alexander Teutscher, Nathalie Guth, Angelina Zuccarini und viele andere. Wohl wahr: was Marco Goecke macht, ist ein Minderheitenprogramm und für einen großen Teil des Ballettpublikums (noch) schwer zugänglich. Obwohl auch dieser Bewegungsstil mit der Zeit seine ganz eigene Schönheit entwickelt: Wer sich nicht auf die dunkle Symbolik einlassen will, der sieht einfach nur zu, wie anmutig Klaras Arme in der Dunkelheit tanzen. Wie ein Tim Burton des Balletts kreiert Marco Goecke eine Atmosphäre zwischen Kinderfantasie und Gruselszenario, grotesk und schrill in einer Minute, doch von kindhafter, reiner Poesie in der nächsten. Wie der wunderliche Drosselmeier zaubert der Stuttgarter Haus-Choreograf im Land zwischen Traum und Wirklichkeit – kein Wunder, dass ihm dieser Stoff so nahelag.
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