Das Drama um die Leidenschaft
„Anna Karenina“ von Christian Spuck am Bayerischen Staatsballett
Terence Kohler wagt sich an Tolstois „Anna Karenina“
Stuttgarts „Onegin“-Patriotismus in allen Ehren, doch als John Cranko so alt war wie Terence Kohler heute, choreografierte er im fernen Südafrika außer Konkurrenz für das University Cape Town Ballet „Sea Change“ und „Beauty and the Beast“ (und erst zwei Jahre später in London seinen Durchbruchserfolg mit „Pineapple Poll“). Ganze 24 Jahre sollten vergehen bis zu seinem „Onegin“ (und der hatte bei seiner Uraufführung noch mancherlei Macken). Gemessen am 22-jährigen Cranko ist Terence Kohlers zweieinhalbstündige „Anna Karenina“ ein Geniestreich – trotz einiger Defizite. Wenn unser Junior von „Down Under“ sich so weiterentwickelt (wie Cranko von südafrikanischen Anfängen), verspricht er als Sechsundvierzigjähriger ein Meister seines Metiers zu werden. Und darauf deutet alles hin. Unser Glückwunsch für Birgit Keil, die mit dieser Produktion einmal mehr ihr Flair als Ballettdirektorin bewiesen hat. Und Ballettdirektoren sind heutzutage vielleicht eine noch seltenere Spezies als Choreografen (siehe Wien).
Die Schwächen der Karlsruher „Anna Karenina“ vorweg. Da ist einmal die allzu beliebige Musikzusammenstellung aus Schostakowitsch, Rachmaninow und Chatschaturjan und der Karlsruher unwürdige Verzicht auf eine Live-Orchestermitwirkung (so, dass man jedes Mal froh ist, wenn sich Inna Martushkevych vom Klavier aus zu Ton meldet). Und natürlich ist Michael Scott kein anderer Jürgen Rose, und sein Bühnenbild (am atmosphärisch suggestivsten das „Patineurs“-Divertissement am Anfang) wirkt wie zusammengestückelt aus seinen zahllosen Dekors für Youri Vámos und Giancarlo del Monaco. Auch seine Kostüme sind sehr unterschiedlich geraten und vor allem: sie verfehlen total die unterschiedlichen Charaktere der Adelsgesellschaft auf der einen und von Kitty und Lewin auf der anderen Seite – so, dass man Kitty glatt für Anna Karenina halten kann.
Das ist überhaupt eins der schwerstwiegenden Mankos der Inszenierung und der Choreografie, dass die Kontraste zwischen den beiden Paaren nicht markant genug herausgearbeitet sind (so hielt ich die kranke Kitty im Bett doch wahrhaftig für Anna und erwartete eigentlich, dass sie gleich einen Brief an Wronsky schreiben würde). Ein weiteres Manko ist die fade Allerweltsprofilierung Wronskys – wenn Karlsruhe keinen Clark-Gable-Typ für den Wronsky hat, hätte ich mir einen Gast vom Format Benito Marcelinos gewünscht. So versteht man nicht, was denn Anna so faszinierend an Wronsky findet, da sie doch einen so ausgesprochen liebevoll um sie bemühten Gatten hat (als der Matthias Deckert der Rolle des Alexej Karenin geradezu Fürst Greminsche Distinktion leiht).
Doch damit genug der Vorbehalte. Ich bewundere Kohlers Mut zu seiner reichen Ausgestaltung des gesellschaftlichen Umfeldes – alle die kleineren Rollen, in denen die Karlsruher beweisen können, zu was für einem tollen Ensemble sie inzwischen zusammengewachsen sind. Sehr sympathisch auch die Besetzung von Imogen Wearing und Alexandre Simoes als Kitty und Lewin, blendend getanzt, auch wenn ich sie mir als Charaktere rustikaler profiliert wünschte (geht auf Kohlers Konto). Famos die vielen kleinen Ensembletänze, für deren jeden sich Kohler ein individuelles Schrittarrangement ausgedacht hat, brillant die Strukturierung der großen Ensembleszenen mit ihrer eskalierenden Sogwirkung (die seinen Pas de deux noch abgeht – da hat er noch eine Menge von Cranko zu lernen). Formidable, ausgesprochen eigenwillige Soli (mit vielen kühnen Bodenfiguren). Besonders für Anaïs Chalendard als Anna Karenina, die im Laufe des Stücks eine bemerkenswert reiche Charakterentwicklung durchmacht und einr atemberaubend expressive Schlussszene hat, bevor sie sich mit einem Tosca-Sprung in den Tod stürzt. Wenn ich noch einmal zweiundzwanzig, ein Choreograf wäre und eine Tanzactrice vom Format der Chalendard hätte, würde ich mich kühn der Herausforderung stellen und am 15. August 2007 als Hommage zu Crankos achtzigstem Geburtstag ein Ballett „Tatjana Gremina“ choreografieren!
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