Vom Minotaurus zu Apollo

Alonzo King's LINES Ballet eröffnet das diesjährige „movimentos“ Festival

oe
Wolfsburg, 02/05/2006

Zum vierten Mal also „movimentos“, das Festival der Autostadt in Wolfsburg – erstmals erweitert zu Festwochen, das internationale Tanzprogramm ergänzt durch Konzertveranstaltungen und szenische Lesungen, Gespräche und Diskussionen – sie alle irgendwie bezogen auf das Generalthema „Heimat – Mutter Sprache Vater Land“. Und die Leute strömen – zu Beginn gleich in vier ausverkaufte Vorstellungen von Alonzo King‘s LINES Ballet aus San Francisco mit zwei Programmen. Weiter sind in diesem Jahr vertreten Israel und Spanien, die Schweiz, Großbritannien und Vietnam.

Das macht schon deutlich: der heutige internationale Tanz hat vielerlei Heimaten – Edgard Reitz‘ Schwabbach ist hier ebenso fern wie Uwe Johnsons „Jahrestage“. Am weitesten entfernt sieht jedenfalls Alonzo King seine Heimat: die „Linien“ seiner zehnköpfigen Kompanie reichen bis in die Sternbilder des Firmaments. Aus dem Kosmos kommt alles Leben – und in den Kosmos geht es wieder ein. Und so erklettert einer der vier Jungs am Schluss die geradewegs in den Schnürboden führende Himmelsleiter, gemäß dem Titel „Following the Subtle Current Upstream“.

Vorher war es allerdings in zwei Stücken eher irdisch zugegangen. In „Händel“ sogar, von den sechs Damen in Spitzenschuhen getanzt, ausgesprochen neoklassizistisch, trotz der vielen axialen Verschiebungen – mit Perpetuum-mobile-Pirouetten, wie in Beton gegossenen Balancen und Schrapnellsprüngen der Boys (übrigens alle in allen drei Stücken in faden, schlecht sitzenden Kostümen). Weiter zurück reichte „The Hierarchical Migration of Birds and Mammals“, in dem urtümliche Lurche, Echsen und Amphibien die Bühne zu bevölkern schienen –in einem Klangenvironment, das Urlaute aus dem Regenwald suggerierte: ein Art tänzerische Zwitschermaschine.

Die fantastisch konditionierten Tänzer, hoch virtuos, sind alles andere als ein homogenes Ensembles. Wie bei Forsythe – mit dem Kings Choreografien jedoch nichts zu tun haben – verkörpert jede und jeder einen individuellen Typ. Wie Alonzo allerdings mit ihnen umgeht, wie er mit Korrespondenzen, Komplementärformen und Verknotungen arbeitet, verleiht seinen Stücken einen persönlichen Touch, der seine Kennmarke ist. Seine besondere Spezialität sind eben diese Verflechtungen zweier, bisweilen dreier Körper, die, wenn man sich das vorstellen kann, einer labyrinthischen Skulptur ähneln. Man fragt sich, wie er diese ineinander verhakten Gliedmaßen je wieder entwirren kann – aber er schafft es, und am Schluss tanzen sie alle in wie mit dem Lineal gezogenen Linien miteinander.

So wird man Alonzo King einen Minotaurus der Choreografie nennen können, der sich am Ende als ein Apollo outet. Verblüffend! Und der so ja vielleicht wirklich die verborgene Ordo des Weltalls auf die Bühne zurückholt.

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