Das Eigene im Fremden

In den Sophiensaelen überbrückt „Ibeji“ tanzend den Abstand zwischen zwei Menschen

Berlin, 20/10/2008

Wohltuend entfernt von den hasserfüllten Gewalttiraden, wie man sie auch auf der Tanzbühne sieht, ist „Ibeji“. Caroline Meyer Picard beginnt ihr Duett in den Sophiensaelen leise und führt es eine Stunde lang mit wundersamer Leichtigkeit bis zum ebenso unspektakulären Finale. Inspirieren ließ sich die französische Choreografin mit Wohnsitz in Berlin von einem alten Ritual der afrikanischen Yoruba-Religion. Dort glaubt man, die Seele eines verstorbenen Zwillings könne unruhig und gefährlich für die Familie werden. Man gibt deshalb eine holzgeschnitzte, nicht notwendig naturgetreue Figur des Verstorbenen für den Hausaltar in Auftrag. Diese winzigen Skulpturen, wie sie derzeit eine Afrika-Ausstellung im Kunstforum zeigt, bieten der Seele des Toten Zuflucht, werden gewaschen, gefüttert, gekleidet und stellen die Balance zwischen den Zwillingen wieder her. Obwohl Zwillinge bei den Yoruba und in Westafrika häufiger sind als anderswo, genießen sie dort Verehrung.

Das jene Ibeji zitierende Duett verallgemeinert die Frage nach der Balance und erforscht das Miteinander, das Verbindende und Trennende zwischen einer deutschen Tänzerin und ihrem Kollegen aus dem Tschad, zwischen Weiß und Schwarz, Frau und Mann. Fast leer bleibt dazu die Szene. Auf einem weichen Rundpodest lagert die Frau, auf einem Brett sitzt der Mann. Aus dieser sicheren Entfernung tauschen sie erste Blicke. Zwei Papierbahnen werden nicht nur Zufluchtsorte, sondern ebenso wie eine in weißen Ziegeln steckende Folie zu Objekten gemeinsamer Veränderung durch schwarze Farbe. Der Eine komplettiert jeweils das Malwerk des Anderen, bis der Eigenanteil im Gesamtergebnis nicht mehr auszumachen ist. Auch die einstigen Lebensräume öffnen sich: Er erkundet das Podest; im Umrüstspiel mit dem Brett schmilzt der Abstand, löst sich in Berührung auf, mündet in übermütiger Jagd zwischen Ausweichen, Warten, Belauern.

So feinfühlig suchen die anfänglich Fremden nacheinander, dass man sich rasch einbezogen fühlt in jenen Test nach dem Ich im Wir und umgekehrt. In einem Solo scheint der Mann sie noch auf seiner Haut zu spüren, schmiegt sich an „ihr“ Podium; sie malt derweil an den Figuren weiter. Vertrauter noch wird der Umgang, als beide aus ihrer westlichen Alltagskleidung in farblich abgestimmte traditionellere Kostüme schlüpfen. Parallel tasten da die Hände, lagern sich die Körper. Als wolle er sie noch enger an sich binden, färbt er ihren Arm schwarz – und dieser Arm strebt in der Tat ihm zu. Doch das Trennende lässt sich nur kurz überbrücken. Allen verhakten, zärtlich umklammerten, innig verschlungenen Passagen zum Trotz türmt sich in jedem wie eine Barriere das Eigene. Als die Requisiten des Spiels beiseite geräumt sind, jeder schon wieder bei sich angekommen ist, geschieht das Wunder des Neubeginns: Er verteilt, knetet Sand wie Teig; während sie froh in den Vorgang einstimmt, kommt flüsternd ein Gespräch in Gang.

Hochsensibel lassen sich die Tänzer auf die choreografisch filigranen Vorgaben und Christian Meyers dezente Klangcollage ein, Anna-Luise Recke mit beredtem, eine Spur melancholischem Ausdruck, als trage sie ihre Seele im Gesicht, Hyacinthe Abdoulaye Tobio, Tänzer, Schauspieler und Festivalleiter, mit einem Lächeln, das die Welt plötzlich rein sein lässt. Stücke wie „Ibeji“ wecken Hoffnung, machen die Welt wärmer und menschlicher. 

www.sophiensaele.com

 

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