Die Moderne von gestern

Jorma Elo und zwei Wiederaufnahmen beim "Variationen"-Abend des Stuttgarter Balletts

Stuttgart, 03/11/2008

Merkwürdig inhomogen wirkt das dreiteilige Programm, das sich beim Stuttgarter Ballett hinter dem Titel „Variationen“ verbirgt: Reichlich unvermittelt springt der Abend von der zaristischen Klassik zur netten Moderne und dann ins hochemotionale Handlungsballett. Am Anfang steht die schöne Neueinstudierung des George-Balanchine-Klassikers „Theme and Variations“ zum letzten Satz aus Tschaikowskys Orchestersuite Nr. 3, mit ihrem grandiosen Finale die wahrscheinlich Tusch-haltigste Musik der Welt.

Schon rein optisch ist der Einakter mit Kronleuchtern, Draperien und Tutus noch ganz im russischen Klassizismus verhaftet, die Choreografie bleibt mit strikten, geraden Linien und vielen reinen, unvariierten Grundschritten geradezu akademisch. Während die Gruppe, vor allem die Mädchen, sehr exakt und vorbildlich sauber aussieht, tanzen die beiden Solisten sehr gut, aber noch lange nicht souverän. Der ansonsten technisch so brillante Friedemann Vogel hat das Pech, dass Double Tours nun mal nicht sein Vorzeigesprung sind, und Alicia Amatriain, zuweilen überfordert mit der hohen Geschwindigkeit, verfehlt nicht nur mit ihrem girliehaften Dauerlächeln den Stil der strahlenden, königlichen Primaballerina. Erinnert sich wirklich niemand an Julia Krämers warmen Glanz in dieser Rolle?

Die einzige Neuheit des Abends trägt den unerklärlichen Titel „Slice to sharp“, übersetzt so etwas wie „Scheibe zu scharf“. Das Ballettchen aus der Abteilung „Fröhlich-Virtuoses zu Barockmusik“ schuf der Finne Jorma Elo vor zwei Jahren für den Choreografen-Workshop des New York City Ballet. Vier Paare in blauen Trikots wechseln sich zu einzelnen Sätzen von Antonio Vivaldi und Heinrich Ignaz Franz von Biber in akrobatischen Duos oder schnellen Ensembles ab, selbst die spärlichen Lichteffekte setzen keine Pointen. Mit zwei Solos für Katja Wünsche und Friedemann Vogel scheint es dann doch ungewöhnlicher zu werden, aber ein paar Verschraubungen aus der Hüfte, ein Schulterrollen und die nach innen geknickten Knie: Das ist die Moderne von gestern. Das Stück erreicht nie die schneidende Schärfe von William Forsythes zwanzig Jahre alten Klassik-Zersprengungen, einen ähnlichen Stil pflegte der hauseigene Christian Spuck in seinem „siebten blau“ schon vor acht Jahren, und das weitaus origineller. Es sind leere Übungen für hochvirtuose Tänzer, die für diese halbe Stunde Herz und Seele zuhause lassen können. Wäre es eine Uraufführung gewesen, man hätte das Stück als choreografisches Leichtgewicht abgetan und sofort wieder vergessen. Aber Ballettintendant Reid Anderson wusste genau, was er einkauft – als gäbe es da draußen keine Choreografen wie Christopher Wheeldon oder Martin Schläpfer, die mit der Kraft ihrer genialen Begabung an der Weiterentwicklung des klassischen Balletts in die Moderne arbeiten, auf intellektuell ungleichem höherem Niveau als diese nette Nichtigkeit.

Von John Cranko waren eigentlich zwei Wiederaufnahmen angekündigt, sein „Opus 1“ fiel wegen Schwierigkeiten bei den Proben aus und soll in einer der nächsten Spielzeiten nachgeholt werden. So gab es nur „Poème de l'extase“ als Höhepunkt des Abends, die Sinnenorgie in Jürgen Roses überreichen Klimt-Bühnenbildern zu Alexander Skrjabins schwüler Orchesterdichtung. Mit Goldornamenten und Schnörkeln, mit Friesen und einer Weihrauch verströmenden Achatschale entwirft Rose den bis zur Leblosigkeit stilisierten Salon einer Diva zur Jahrhundertwende, der sich später für ihre Visionen in eine Phantasmagorie der Farben, der wehenden Umhänge und herabstürzenden Schleier weitet. „Die Schöne“, so heißt die zentrale Frauengestalt, wird von einem frischen, noch nicht von der dekadenten Gesellschaft korrumpierten Jüngling umschwärmt, der aber gegen die Visionen ihrer vier vergangenen Liebhabern antanzen muss. Diese Traummänner tragen inzwischen keine hautfarbenen Trikots mehr, sondern sind, wie bei der Uraufführung 1970 skandalöserweise intendiert, fast nackt, bis auf ein paar über den Körper gesponnene Fäden.

Während Alexander Jones noch mit der ungestümen Siegesgewissheit der Jugend über die Bühne wirbelt, fehlt Evan McKie und Damiano Pettenella trotz ihrer mächtigen Sprüngen jegliche Sinnlichkeit, die Selbstherrlichkeit des Adonis, das Hineinschmiegen in Skrjabins trunkene Musik. Einzig Jason Reilly lockt als letzter der Verführer wild und erotisch, die Schöne stürzt sich in seine Arme wie in den Drogenrausch. In der Rolle, die Cranko einst für Margot Fonteyn kreierte, lässt Sue Jin Kang das zerbrechliche Innere hinter der maskenhaften Unnahbarkeit aufscheinen, ja sie wird wirklich jünger und wandelt sich von der verblühten, kühl-stilisierten Decadence-Diva zur glühenden Liebenden, schwebt im Triumph über den vier Geistern dahin und sinkt in Anbetung zu ihren Füßen. Wie sie am Schluss, verzweifelt und doch rettungslos in der Vergangenheit verloren, den flehenden Jüngling und die Chance auf ein neues Leben wegstößt, das ist einer der unglaublichen, großartigen Momente, die Cranko für seine Ballerinen geschaffen hat. Marijn Rademaker wirkt als verliebter Jüngling anfangs wenig lyrisch, steigert sich aber in eine große Leidenschaft hinein und verlässt die einsame Schöne als Gebrochener. Das Corps de ballet ist vielleicht ein bisschen zu jung, um den Snobismus zu verstehen, den Cranko in die weißbehandschuhten Manierismen der Jugendstil-Gesellschaft gelegt hat – es gibt also noch einigen Spielraum, um in den Aufführungen nach der Premiere besser zu werden. Was beim Stuttgarter Ballett in letzter Zeit häufig der Fall ist.

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