Crankos Erbe

Als ausgebildeter Speditions- und Reedereikaufmann deutete zunächst nichts darauf hin, dass der 1939 in Königsberg (heute Kaliningrad) geborene Dieter Graefe später seinen Weg zum Ballett finden würde – allerdings nicht auf, sondern hinter der Bühne. In Stuttgart arbeitete Graefe als Versandleiter einer Nähmaschinenfabrik, bis ihm Bekanntschaften völlig zufälliger und unverhoffter Weise die Tore zum Stuttgarter Ballett öffneten. Vom legendären Choreografen und Ballettdirektor John Cranko für seine Zuverlässigkeit und Genauigkeit geschätzt, wurde Graefe zunächst zu dessen Privatsekretär, der für die gesamte Korrespondenz des Choreografen zuständig war, und ab 1965 zum Ballettsekretär und Disponent der Stuttgarter Staatstheater ernannt. Cranko, der im Jahr 1973 mit nur 45 Jahren völlig überraschend und viel zu früh verstorben war, hatte Dieter Graefe noch als Verwalter und Behüter seines wertvollen Balletterbes eingesetzt. Gleichzeitig übernahm Graefe gemeinsam mit Ballettmeisterin Anne Woolliams die vorläufige Leitung des Stuttgarter Balletts, bis im Folgejahr Glen Tetley zum Direktor ernannt wurde und die Kompanie für zwei Spielzeiten leitete. 

Unter der Direktionszeit der Grande Dame des Stuttgarter Balletts, Marcia Haydée, stieg Graefe noch zum Stellvertretenden Ballettdirektor und ab 1983 zum Administrativdirektor der Kompanie auf. 

Mit Verstand und Weitsicht sorgte Graefe letztlich nicht nur für die Belange des Stuttgarter Balletts selbst, sondern als Verwalter der Lizenzen von Crankos Werken vor allem auch dafür, dass dessen Choreografien – allen voran seine drei Ballette: „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ – auch über Stuttgarts Grenzen hinaus weltweit werkgetreu getanzt wurden und ihren Rang als Meisterwerke des Balletts des 20. Jahrhunderts behielten, ja zu fundamentalen Klassikern des internationalen Ballettrepertoires wurden. 

Im Jahr 2020 gründete Dieter Graefe mit seinem langjährigen Lebensgefährten Reid Anderson – selbst ehemaliger Star unter Cranko beim Stuttgarter Ballett und ab 1996 Ballettintendant der Kompanie – die John Cranko Stiftung, deren Tantiemen und künftige Einnahmen der John Cranko Schule zugutekommen sollen. 

Mit Dieter Graefe verliert nicht nur das Stuttgarter Ballett, sondern die internationale Ballettwelt einen weiteren zentralen Behüter und Bewahrer des überaus bedeutsamen Erbes John Crankos. Die Tanzwelt wird ihn schmerzlich vermissen.