Forsythe meets Berlin
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig
Bei aller Liebe zum romantischen Revival: Der neue Abend des Staatsballetts Berlin fegt wie ein Windstoß durchs historische Gebälk der Lindenoper. Die ausgehende Saison hat schönheitstrunkene Traditionalisten mit „Glories of the Romantic Ballet“ und „La Sylphide“ verwöhnt und vollzieht nun den Brückenschlag ins Heute, ohne die klassische Basis zu leugnen. „With/Out Tutu“ spielt nicht nur im Titel mit einem wichtigen ballettgeschichtlichen Attribut. Auch auf der Szene dürfen die Damen mit und ohne Tellerrock Bein zeigen. Drei Choreografen haben ihnen dafür ihren Bewegungsfundus verfügbar gemacht. Dass zeitgemäßer Tanz Impulse gerade aus der Spannung zu klassischer, zumal live konzertierter Musik bezieht, erhebt den von der Staatskapelle unter Vello Pähn mit Feinklang begleiteten Abend zum anregenden Wettstreit zweier Schwesterkünste.
Eröffnet wird er mit einem fulminanten, weltweit getanzten Neuklassiker von William Forsythe. Was der Allvater extravaganter Bewegungsexkursion unter dem düsteren Namen „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ 1996 seinem Ballett Frankfurt einstudierte, fährt nicht nur den Tänzern gehörig in die Glieder. Zum Finalsatz aus Franz Schuberts 9. Sinfonie C-Dur verwickelt er zwei männliche und drei weibliche Solisten in ein Blitzgewitter atemberaubender Abläufe, die das Allegro vivace der Komposition zu vervielfachen scheinen. Raster wechseln permanent, Raumrichtungen ändern sich, auf Pirouetten folgen separate Kopfkreise, die Achsensicherheit verlangen. Nirgendwo ein Halt, alles fließt ineinander. Inhalt ist, wie stets bei Forsythe, die Bewegung selbst, hier erschwert durch das nie nachlassende Tempo. Was aus dem Spiegelbildstand der Männer vor tiefblauer Projektion beginnt und sich zu ungewöhnlich geformten Begegnungen mit den Partnerinnen entwickelt, endet nach elf ungemein dicht gepackten Minuten lässig in der Reihenaufstellung des Quintetts. Vladimir Malakhov, von seiner Operation genesen, und Dinu Tamazlacaru, beide in weinroten, sexy rückenfreien Maillots, sind den dahinfliegenden Damen Beatrice Knop, Shoko Nakamura, Polina Semionova brillant elanvolle Widerparts.
Atmosphärisch ist bei der Uraufführung des Programms schon Michael Korschs Bühne: Drei gestaffelte, bodenlange Hänger aus Schnüren lassen vage erkennen, wie das tänzerische Dahinter mit dem schattenlosen Davor korrespondiert. Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, zwei „Lieder ohne Worte“ sowie zwei Sätze aus seinem Konzert für Violine, Klavier und Streichorchester, und das Orchesterstück „September“ seiner Schwester Fanny Hensel grundieren jenes viergeteilte Sichtspiel, wie es Jodie Gates eine runde halbe Stunde lang in „Courting the Invisible“ zelebriert. Auch sie, die Ex-Forsythe-Solistin und Festivalleiterin, nutzt Spitzentechnik, setzt indes auf überdehnt weite Linien, geschmeidig ausgestoßene, sofort wieder zurückgeholte Energie, die spezielle physische Ausdruckskraft jedes Tänzers. Drei Solopaare und sieben Gruppenpaare verwebt sie im nebligen Grau der Bühne und ohne Pathos in partnerschaftliche Sehnsüchte, berührend luzide Duette, aus denen sich immer wieder einer der Partner ins Sichtbehinderte zurückzieht. Umgruppiert erzeugen die Hänger jeweils neue Räume und Schattenwirkungen. Willfährig liefern sich wunderbare Interpreten der ungewohnten Formensprache aus: Nadja Saidakova und, tänzerisch rund, Michael Banzhaf, Johanna Hwang und Leonard Jakovina, Elisa Carrillo Cabrera und der katzenhafte Martin Buczkó, Vladislav Marinov, Mario Hernandez aus der Gruppe.
Hat die Gruppe bei Gates vielfach solistische Aufgaben, so sind in „Bruch Violin Concerto No 1“ die Fronten zwischen Solo und Ensemble getrennt, das Bewegungsmaterial enger am klassischen Kanon. 1987 entstand jenes Werk von Clark Tippet, mit dem sich erstmals der Dritte im Bund amerikanischer Choreografen in Deutschland vorstellt. Die drei Sätze aus Max Bruchs populärem Violinkonzert vertraut Tippet, 1992 mit 37 an Aids verstorbener Starsolist des American Ballet Theatre, vier Solopaaren an, die von acht Gruppenpaare edel ornamentiert werden. Fast wirken die Glitzertutus der Frauen und auch das auf Stemmhebungen gebaute Formenmaterial anfangs wie ein Rückgriff gegenüber den raffinierten Kleidchen und dem fließend heutigen Gestus der vorangehenden Stücke. Dennoch nimmt die balanchinesk elegante, auf dem Knie endende Ballett-Hommage für sich ein: durch unorthodox gefügte Tableaux und kolorierende Zitate aus Mazurka und Csárdás ebenso wie dank großartigen Solisten. Zentrum ist das Adagio mit einer überragenden Polina Semionova und ihrem Bruder Dmitrij Semionov als prachtvollem Partner. Corinne Verdeil/Rainer Krenstetter und Gaela Pujol/Marian Walter fügen dem farbenfrohen Werk eigene Akzente bei.
Wieder 19., 20.05., 8., 13.06., Staatsoper Unter den Linden
Link: www.staatsballett-berlin.de
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