Forsythe meets Berlin
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig
„With/out Tutu“, interpretiert von William Forsythe, Jodie Gates und Clark Tippet
Auf dem Höhepunkt der Berliner Opern-Querelen mutet die jüngste Premiere des Staatsballetts Berlin wie das Auge im Zentrum eines Hurrikans an: eine Oase der Ruhe, Harmonie, Schönheit und künstlerischen Balance. In der Tat hätte man an diesem Abend dem so arg in die Bredouille geratenen Peter Mussbach einen Gastauftritt an der Seite seines so strahlend siegesgewissen Intendantenkollegen Vladimir Malakhov gegönnt (vielleicht als Benno neben Malakhovs Siegfried?). In all dem Tohuwabohu um die Berliner Opernsituation droht übersehen zu werden, welch eine grundsolide Aufbauarbeit vom Staatsballett in seiner noch nicht einmal vierjährigen Existenz unter der Leitung von Malakhov im Haus Unter den Linden geleistet worden ist.
Ein Charismatiker wie Nurejew und Baryschnikow – wie ihm gelegentlich von seinen Fans attestiert – ist er nicht. Indessen ein ungemein gewissenhafter, kundiger und welterfahrener Arbeiter im Ballettweinberg des Herrn. Auf jeden Fall ist er ein Mann, der genau weiß, was er will, und ein sehr umsichtig und langfristig vorausplanender Spielplan-Stratege. Außerdem hat er eine untrügliche Nase für exzeptionelle Tänzerbegabungen. Was er in diesen vier Jahren nach Berlin engagiert hat, ist eine Solistenelite, um die ihn mancher seiner Kollegen beneidet. Seine beiden jüngsten Erwerbungen mit ausgesprochenem Starpotenzial sind der aus Stuttgart ja nicht ganz unbekannte Mikhail Kaniskin und Dmitrij Semionov, der Bruder der (nicht nur in Berlin) umschwärmten Polina Semionova. Zusammen bilden die beiden hoch gewachsenen, überaus eleganten, technisch souveränen Geschwister ein Traumpaar, das alle Aussicht hat, eines nicht mehr allzu fernen Tages in die Klasse der Fonteyn-Nurejew und Haydée-Cragun aufzurücken. Und vergessen wir nicht, dass Malakhov selbst nach mancherlei gesundheitlichen Rückschlägen in der jüngeren Vergangenheit und einer Rehabilitation, die seiner Technik ein neues Finish verliehen hat, nach wie vor zu den Tänzern der 1a-Klasse des internationalen Ballett-Business gehört.
Und so setzte er mit seinen vier Kollegen Beatrice Knop, Shoko Nakamura, Semionova und Dinu Tamazlacaru die Messlatte in William Forsythes „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ zu Schuberts Schlusssatz seiner 9. Sinfonie so hoch an, wie es sich nur die allerbesten Kompanien rund um den Erdball leisten können (und wie sie nicht einmal von Forsythes eigener Truppe erreicht wird). Und fuhr damit gleich den Mäklern in die Parade, die stöhnten: schon wieder, bei der dritten Premiere der Saison – nach den „Glories of the Romantic Ballet“ und Bournonvilles „La Sylphide“ – ein nostalgischer Rückblick ins musikalische 19. Jahrhundert, dessen andere kompositorische Zulieferer an diesem Abend Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny (für Jodie Gates „Courting the Invisible“) und Max Bruch mit seinem viel strapazierten ersten Violinkonzert (für Clark Tippets gleichnamiges Ballett) hießen.
In „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ hat Forsythe dem Schubert jegliche Romantik ausgetrieben, outet er sich als ein choreografischer High-Speed-Konstrukteur in einem Test-Labor für Tempobeschleunigungen: wie prestissimo können/müssen heutige Tänzer sein? Die Berliner können es bis an die Grenze der physischen Belastbarkeit (selbst mit Tutu). Romantik pur als musikalische Seelenwanderung auf den Spuren der beiden Mendelssohn-Geschwister präsentierte sodann Jodie Gates, Amerikanerin mit Joffrey- und Forsythe-Vergangenheit, als Uraufführung für drei Tänzerpaare und zwölf Gruppenmitglieder. Schöne, flüssige Arrangements für Tänzer in hautdurchlässigen Trikots (ohne Tutus), hingegeben den salonhaften Kantilenen der Musik in Soli, kleineren und größeren Gruppen, immer apart anzusehen und stimmungssuggestiv, ein bisschen à la Tudor, ohne sich je zu konkreten Inhalten zu verdichten. Was die letzthin doch ziemlich unbefriedigend lassende Unverbindlichkeit erklärt.
Tänzerische Preziosen, preziös serviert von dem großen, von Nadja Saidakova und Michael Banzhaf angeführten Ensemble. Doch fragt man sich: musste das unbedingt aus Amerika importiert werden, hätten wir das nicht auch in vielfältiger Eigenproduktion zu bieten gehabt? Ja, und dann also eine erste kontinentale Begegnung mit dem seinerzeit geradezu explosiv kreativen amerikanischen Senkrechtstarter Clark Tippet, der schon 1992, gerade 37 Jahre alt, als eines der ersten Aids-Opfer gestorben ist. Mit seinem ganz klassisch grundierten „Bruch Violin Concerto Nr. 1“ für ein groß besetztes, tuturisiertes Ensemble lieferte er eins der tänzerische Funken versprühenden Konzert-Ballette, wie sie damals im Schwange waren, mit dem musikalischen Kraftfutter von Schumann, Brahms (Cranko!), Saint-Saens, Tschaikowsky und Rachmaninow bis zu Alban Berg (Tetley!).
Heute mutet das doch eher wie eine Reverenz aus den Muscle-Power-Tages des Balletts an: schaut her, wie wir unsere Muskeln spielen lassen – in Drehungen, jagenden Sprüngen und vor allem in stämmigen Transportakten. Die die Berliner mit Bravour bewältigen – mit Marian Walter als Spree-Luftikus aus Zilleschem Geiste und bekrönt von eben jenem Berliner Wunderpaar der Semionovs, wobei sie, Polina, für eine jener Ewigkeitssekunden sorgte, als sie zeitvergessen in jener en-Arabesque-Pose posierte, die uns als Zitterpartie aus dem „Rosen“-Adagio so schreckvertraut ist. Eine Sternsekunde des klassischen Balletts, die uns in jenes Firmament katapultierte, in dem sich uns blitzartig die Utopie der Möglichkeit einer besseren und schöneren Welt auftat.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments