Ein Ärgernis, diesmal andersherum

Stuttgarts „Eugen Onegin“, AD 2008 kontra Stuttgarts „Onegin“, AD 1965

oe
Stuttgart, 30/11/2008

Am 15. April 1965 erschien in der Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift „Ein Ärgernis“ eine Kritik über das zwei Tage zuvor uraufgeführte Ballett „Onegin“ von John Cranko. Darin hieß es: „Es lässt sich leider nicht verschweigen, dass diese Ballettversion die literarische Vorlage auf ein Operettenniveau nivelliert, die für jeden, der mit dem Werk Puschkins oder mit der Oper Tschaikowskys vertraut ist, ein Ärgernis darstellt.“ Der Verfasser: ein gewisser Horst Koegler. Kann man „kapital“ steigern? Dann wäre das wohl das „kapitalste“ Fehlurteil meiner inzwischen über fünfzigjährigen Praxis als Ballettkritiker, denn Crankos „Onegin“ gehört heute zu den Ballettklassikern des 20. Jahrhunderts, Tatjana ist die Traumrolle jeder klassischen Ballerina.

Wie war es dazu gekommen? Dieser gewisse H. K, der sich heutzutage lieber „oe“ nennt, gehört zum Jahrgang 1927, eingeschult 1933, als der ganze Nazi-Schlamassel begann, Pimpf, Hitlerjunge, Flakhelfer, Marineartillerist, aus englischer Gefangenschaft befreit, Studienbeginn in Kiel. Erste Nachkriegsoper „Eugen Onegin“ im Herbst 1945 am Stadttheater Kiel. Seither rettungslos verliebt in Puschkins und Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ – auf vielen Bühnen der ganzen Welt immer wieder gern (und manchmal nicht ganz so gern – wie zuletzt an der Bayerischen Staatsoper in München) gesehen. Bis zur Erstbegegnung mit der Oper praktisch ohne alle Balletterfahrung: viel Hausmusik, Klavier und Orgel – frühe Theaterbesuche in Kriegs-Berlin, meist Varieté-Matineen im Wintergarten, mit der einen oder anderen Tanznummer, darunter auch bereits die Geschwister Höpfner, die mich aber wenig beeindruckten.

Und nun also abermals „Eugen Onegin“ – oder vielmehr „Jewgeni Onegin“ in russischer Sprache, an der Staatsoper Stuttgart. Musikalische Leitung Marc Soustrot, Regie Waltraud Lehner, Bühne Kazuko Watanabe, Kostüme Werner Pick, Licht Reinhard Traub, Video Judith Konnerth, Chor Johannes Knecht, Dramaturgie Sergio Morabito. Und oe's Reaktion? Der fragt sich: ist der Superlativ von „kapital“ noch steigerungsfähig? Gibt es sozusagen ein Ärgernis der „kapitalissimo“-Art? Dann träfe es auf diese Vorstellung zu! Nicht etwa, weil sie ohne Orchester stattfand, das die Premiere bestreikte – und stattdessen vom Korrepetitor Thilo Lange am Klavier begleitet wurde. Denn der waltete seines Amtes als ein treuer Diener seines Herrn Pjotr Iljitsch. Der allerdings wäre wohl entsetzt gewesen, wenn er gesehen hätte, was sich auf der Bühne tat.

Und wenn manche Russen sich schon schwer damit tun, wie Tschaikowsky Puschkins Versroman ‚veropert‘ hat, wie würde Aleksandr Sergejewitsch wohl darauf reagieren, Tatjana als eine Graffiti-Künstlerin zu sehen, die ihren Brief an Onegin auf einer postsozialistischen Baustelle in St. Petersburg an alle möglichen Plakatwände schreibt, um sich anschließend darin einzuwickeln und zum präolympischen Après-Ski nach Sotschi zu fahren? Hörte ich AD 1965 die Tänze der Onegin-Gesellschaft immer von den virtuellen Texten und Melodien Puschkins und Tschaikowskys begleitet, so war's diesmal genau anders herum: sah ich in meiner Fantasie ein virtuelles Cranko-Ballett, durchschwebt von einer Marcia Haydée, einer Natalia Makarowa, einer Sue Jin Kang, einer Lucia Lacarra (und in meinen außer Rand und Band geratenen Träumen sogar einer Margaret Illmann, die die Rolle nie getanzt hat). Und bin nun total verunsichert, wer Tatjana Larina alias Gremina wirklich war.

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