Anschluss an die internationale Welt des modernen Balletts
Regensburg genoß unter dem scheidenen Ballettchef Olaf Schmidt eine exquisite Ballettgala
Bühnentanz in Regensburg wird bislang oft unter der Rubrik „Tanz in der Provinz“ abgelegt – zumindest aus hauptstädtischer Sicht oder von namhaften Tanzzentren in Deutschland aus gesehen. Es war Anfang der 1990er Jahre, als Dieter Gössler die, was zeitgenössische Kunst anbelangt, eher gemächlich in sich ruhende Welterbestadt, mit schier übermenschlichem Einsatz für das Ballett begeisterte. Seit dreieinhalb Jahren ist Olaf Schmidt nun Ballettchef in Regensburg. In aller Stille und mit energetischer und dramaturgischer Feinarbeit ein choreographisches Werk geschaffen, das kenntnisreich mit Klassikern und Stilen der Ballettgeschichte umgeht, Tabus nicht scheut und von einem Ensemble getanzt wird, das sich sehen lassen kann. Zum dritten Mal in seinem Künstlerleben wagt sich der gebürtige Berliner jetzt an „Schwanensee“. Darüber und die Arbeit an einem Stadttheater unterhielt sich Alexandra Karabelas mit dem 44-Jährigen vier Wochen vor der Premiere am 8. März 2008.
Redaktion: „Schwanensee“ ist ein Schlüsselwerk der Ballettgeschichte. Wie nimmt man die Arbeit mit einem so gewichtigen Erbe auf, wenn das Ensemble nicht aus mindestens 30 Tänzerinnen und Tänzern besteht?
Olaf Schmidt: Das Ballett Regensburg besteht aus zwölf Tänzerinnen und Tänzern, d.h. ich muss schon aus diesem Grund einen völlig neuen Ansatz finden und habe „Schwanensee“ in die Gegenwart versetzt. Im Gegenzug werde ich natürlich trotzdem die Tatsache, dass „Schwäne“ auf der Bühne tanzen, erhalten. Ich habe mich zunächst mit meiner Dramaturgin Christina Schmidt gefragt, was am „Schwanensee“ substantiell wichtig ist. Nicht wichtig ist für uns, dass viele verschiedene Prinzessinnen auf die Bühne kommen und jede ihre Nummer tanzt, das klassische Divertissement also. Vielmehr schauen wir beispielsweise auf die Mutter des Prinzen, die aus heutiger Sicht allein erziehend ist und deren Sohn kurz davor steht, ein Mann zu werden. Der „Prinz“ steht vor der Herausforderung, sich von ihr zu lösen und eine eigene Identität zu entwickeln. Er benutzt hierzu die Schwäne und gerät dabei in einen Konflikt. Einerseits sucht er die ideale Liebe, die der weiße Schwan verkörpert; andererseits fühlt er sich von der dunklen, erotischen, aber auch enttäuschenden Liebe des schwarzen Schwans stark angezogen. Er muss sich entscheiden.
Redaktion: An „Schwanensee“ hat schon immer das Märchenhafte fasziniert, ebenso die im weißen Akt formulierte „romantische Liebe“. Bleibt das in Ihrer Inszenierung erhalten?
Olaf Schmidt: Ich habe die Märchenwelt, wie man sie in klassischen „Schwanensee“-Inszenierungen findet, herausgenommen. Vielmehr finden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen Eingang in meine Arbeit: die zunehmende Oberflächlichkeit, die sich durch die weltweite Vernetzung einstellt; die wachsende Vereinsamung vieler Menschen als Folge der erstrebten Individualisierung. Einerseits lässt sich der Mensch heute permanent oberflächlich unterhalten, andererseits verurteilt er dies, hält es aber kaum noch aus, nur mit sich selbst zu sein - oder er kreist nur noch um sich selbst.
In „Schwanensee“ bin ich jetzt dabei, diese Beobachtungen ins Extrem zu führen. Der Prinz wird eine fiktive Figur aus der High Society zeigen, der nur noch sich selbst wahrnimmt, sich beispielsweise auf seiner Geburtstagsparty langweilt, trotzdem aber zu den „Schwänen“ dazu gehören will. Indem ich die Situation, die „Schwanensee“ ausstellt, narzisstisch fokussiere, setze ich beim Zuschauer – und ich hoffe, dies gelingt mir - ein Spiel mit der Wahrnehmung in Gang, das ihn vielleicht mit seiner individuellen Selbstwahrnehmung in Kontakt bringt. Am Ende soll man nicht mehr sicher wissen, wer eigentlich wer ist im „Schwanensee“. Schwan- und Mutterrolle werden pluralisiert und differenzieren sich auf diese Weise aus.
Redaktion: Wie wird sich dieses Konzept auf das Setting auswirken?
Olaf Schmidt: Manuela Müller hat einen Raum entworfen, der zunächst ein modernes Loft bietet, jedoch auch im Stande ist, sich aufzulösen und zeichenhaft, jedoch erkennbar, den See entstehen lässt, den Wald als Ort des Dunklen und Ungewissen, wo Gefahren lauern und wohin sich der Prinz hineinbegeben muss.
Redaktion: Wie verführerisch ist es, trotz des nur 12-köpfigen Ensembles tradiertes Schrittmaterial einzusetzen?
Olaf Schmidt: Sehr verführerisch, auch wenn ich letztendlich für mich „Schwanensee“ neu durchchoreografiere. Natürlich bieten sich die Attituden an oder die Armführungen oder der Tanz der vier kleinen Schwäne. Andererseits habe ich gerade letzteren in allen „Schwanensee“-Balletten, die ich gesehen habe, nie besser gesehen als im Original. In meiner ersten „Schwanensee“-Inszenierung habe ich sie daher auch weggelassen. Diesmal wird es, denke ich, vier kleine Schwäne geben, aber transformiert in mein Konzept. Mal sehen.
Redaktion: Kommen die 32 Fouettés?
Olaf Schmidt: Ich fürchte ja. Im dritten Akt wird das Stück so abgehoben sein, dass man das auch machen kann. Ich liebe Fouettés!
Redaktion: Allein in den vergangenen zwanzig Jahren wurde „Schwanensee“, wie Sie schon angedeutet haben, unzählige Male neu interpretiert. Wichtige Inszenierungen stammen von Mats Ek oder Matthew Bournes, auch von John Neumeier. Erleichtert oder erschwert das die eigene Arbeit?
Olaf Schmidt: Ich empfinde es als große Chance, dass es schon viele und sehr gute Bearbeitungen gegeben hat, die sichtbar machten, was alles in „Schwanensee“ drin steckt. Natürlich habe ich mich gefragt, warum ich, nachdem ich „Schwanensee“ für 36 Tänzer am Staatstheater Karlsruhe und für 27 Tänzer bei der Expo 2000 an einem Schwimmdock in Wilhelmshaven erarbeitet hatte, es noch ein drittes Mal wage, den Stoff zu bearbeiten. Mich reizt jetzt eben, den Zuschauer von den Haltegriffen der überlieferten Handlung loszureißen, ihn zu entführen und ihn durch den Tanz neu verstehen zu lassen, denn das kann moderner Tanz heute. Je weiter man sich von der Bau- und Erzählweise eines Handlungsballetts entfernt, desto eher überlässt man es dem Zuschauer, sich sein eigenes Bild zu machen. In Regensburg, habe ich das Gefühl, ist das Publikum dazu bereit. Das ist toll.
Redaktion: War das von Anfang an so oder hat sich das eher konservative Publikum nur langsam für moderne Inszenierungsformen und Bewegungsmuster im Ballett geöffnet?
Olaf Schmidt: In Regensburg gibt es ein starkes Abonnement-Publikum, und wenn dem was gefällt, dann hat man erstmal einen Bonus. Ich hatte in meiner ersten Spielzeit 2004/2005 mit dem gemischten Abend „Vier Jahreszeiten – Bolero“ einen guten Einstieg. Darauf kam „Ein Sommernachtstraum“, das ich stellenweise sehr ironisch und sehr „entertainig“ inszeniert hatte, was dem Publikum, glaube ich, gut gefallen hat. Mit „Orlando – zwei Biografien“ aus der letzten Spielzeit habe ich mich schon sehr vom klassisch strukturierten Handlungsballett entfernt, da ließ ich den Tanz über weite Strecken in seiner abstrakten Kraft erzählen und das Publikum ging mit.
Redaktion: „Petruschka“, „Dornröschen“, „Ein Sommernachtstraum“ - Sie entscheiden sich bevorzugt für klassische Ballettstoffe. Ist das ein Zugeständnis an die besonderen Erwartungen eines Stadttheaters oder gibt es einen anderen Grund? Etwa, dass Sie jedem Ihrer zwölf Tänzer die Gelegenheit geben möchten, sich weiter zu entwickeln, indem er sich Bearbeitungen klassischer Stoffe ertanzt?
Olaf Schmidt: Klassische Stoffe sind ebenso interessant wie Neukreationen, die ich genauso häufig angehe. Ich muss jedoch feststellen, dass es machbar, aber sehr schwer ist, wirklich gute, sprich: in irgendeiner Form aussagekräftige abendfüllende Ballette neu zu kreieren. In den vorhandenen Klassikern steckt alles drin, worum es im Theater und im Leben geht: Liebe, Einsamkeit, Tod. Der Klassiker, der, wie „Schwanensee“, schon musikalisch eine Länge von gut zwei Stunden vorgibt, zwingt mich als Choreograf dazu, eine Aussage zu machen. Diese findet sich in der von mir erarbeiteten Dramaturgie, in meiner „Modernisierung“ des Klassikers, in dem, was ich an Welt- und Selbsterfahrung hineinlege.
Redaktion: Ihre zwölf Tänzerinnen und Tänzer stammen aus zehn verschiedenen Nationen und sind exzellent ausgebildet. Wohin geht das Ensemble mit Ihnen?
Olaf Schmidt: Da die Kompanie klein ist, hängt das stark von den einzelnen Tänzern ab. Gehen nur zwei weg und kommen für sie neue, verschiebt sich sofort das ästhetische Profil der Kompanie. Ich choreografiere für jeden Tänzer individuell. Und ich gucke wirklich, dass jeder die besten Schritte bekommt und sich sehr gut präsentieren kann. Ich führe meine Kompanie an ihre Grenzen, aber ich überfordere sie nicht.
Redaktion: Ihre Tänzer sind verpflichtet, Einlagen in Opern, Operetten oder Musicals zu tanzen. In Nürnberg wird Daniela Kurz nach zehn Jahren als Tanztheaterchefin aufhören, weil sie genau dies für ihre Kompanie ablehnte. Wie stehen Sie dazu?
Olaf Schmidt: Natürlich ist das toll, wenn man sich nur auf die Ballettarbeit konzentrieren kann, wie das zu meiner Zeit am Badischen Staatstheater Karlsruhe war. Andererseits ist es in einem Theater wie Regensburg notwendig, wenn man Kürzungen und Stellenabbau vermeiden will - es gibt dafür leider genügend traurige Beispiele in Deutschland. Trotzdem war und ist die Entwicklung von autonomen kleinen Tanzsparten sehr wichtig für die künstlerische Qualität an den Stadttheatern.
Redaktion: Das Ballett ist unter Ihrer Leitung die erfolgreichste Sparte am Haus geworden.
Olaf Schmidt: Den Politikern ist das schnurz! Die sehen nur, dass eine Operette ohne Ballett noch langweiliger wäre und deshalb wurde das Ballett Regensburg in der wirtschaftlich schwierigen Zeit erhalten. Ohne diese Arbeit in den anderen Sparten würden unsere über fünfzig Ballettvorstellungen der drei oder vier Produktionen pro Spielzeit heute nicht stattfinden. Ich versuche trotzdem, die Musiktheatereinlagen sehr anspruchsvoll zu halten, vorausgesetzt der Regisseur lässt mir die Freiheit, damit auch der profilierte Tänzer des 21. Jahrhunderts von der Bühne geht und sagen kann, das hab ich gut gemacht. Auch das unterstützt unseren Erfolg hier, denn Publikum und Presse bemerken und honorieren das.
Redaktion: Wie verkraftet das Ensemble diesen hohen Belastungsgrad?
Olaf Schmidt: Das Ensemble besteht im Grunde aus 12 Solisten und aus choreographischer Sicht ist das mindestens so gut als wenn 36 Gruppentänzer in der Kompanie wären. Das Problem, das sich aber bei so vielen Einsätzen in Oper oder Musical manchmal stellt, liegt eher in der unterschiedlichen Darstellung und Theatralik. Diese ist in einer Operette anders als in meinen Balletten. Da passiert es schon mal, dass sie, wenn sie dann nach drei Musical-Vorstellungen einen Ballettabend tanzen, erschöpft sind, nicht genügend bei sich sind, sondern noch in der stark nach außen gerichteten Darstellungsweise.
Redaktion: Gibt es etwas, was der Tanz unter den Künsten am Besten sagen kann?
Olaf Schmidt: Das Beste, was er tun kann, ist: nicht eindeutig sein. Ähnlich wie beim Hören von konzertanter Musik, sollte der Tanz dem Zuschauer einen assoziativen Kosmos bieten. Deshalb ist für mich auch im Laufe der Jahre die Musikalität der Choreographie immer wichtiger geworden.
Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch.
Termine: „Schwanensee“: 8. März (Premiere), weitere Vorstellungen am 15., 17., 23., 30. März, 18., 27., 29. April, 24., 25. (15 Uhr), 31. Mai, 3., 11. Juni, 3. Juli 2008; „Mozart-Requiem“: 21. März (Wiederaufnahme), weitere Vorstellungen am 5., 19. April, 10. Mai 2008 jeweils um 19.30 Uhr im Theater am Bismarckplatz.
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