Noch nie – nie wieder
„Farewell!“ - Der allerletzte Auftritt des Kevin O’Day Balletts in Mannheim
Sechs Paare in elegantem Grau sitzen auf Stühlen am Rande einer Tanzfläche, es sieht ein wenig aus wie in alten französischen Schwarzweißfilmen oder in Ettores Scolas „Le Bal“. Aus dem Off singt Jeanne Moreau ein Gedicht von Marguerite Duras, ein Vorhang aus regendünnen Fäden teilt die Bühne in ein Hier und ein irreales Dort. 26 melancholische Lieder von Jacques Brel bis Carla Bruni versammelt das Tanzstück „Chansons“ beim Mannheimer Ballett, nur selten die berühmten Klassiker, meist Unbekanntes und Nachdenkliches, manchmal auch Fröhliches, hauptsächlich französisch, aber dazwischen auch spanische und amerikanische Songs. Es ist ein bittersüßer Soundtrack, der von Liebe und Einsamkeit, Leben und Tod handelt, der die stolze Melancholie und Individualität von Sängerpoeten wie Georges Moustaki, Barbara, Nina Simone oder Leonard Cohen feiert.
Choreografiert hat das dunkle und doch manchmal so lebensfrohe Ballett die Frankokanadierin Dominique Dumais, Stellvertreterin des Mannheimer Tanzdirektors Kevin O'Day. Mit so guter Musik hat man als Choreograf eigentlich schon die halbe Miete, aber Dumais ruht sich keineswegs auf der Schönheit der Chansons und Stimmen aus. Sie reiht ein faszinierendes Duo an das nächste – Pas de deux der verzweifelten, erfüllten oder leise vergangenen Liebe, Duette über Einsamkeit oder Freundschaft wie ein tiefes und tröstliches, überhaupt nicht erotisches Männer-Duo. Der freie, stark emotionale Choreografiestil lässt bei allem klassischen Hintergrund der Mannheimer Tänzer die gefasste Korrektheit des Balletts so weit wie möglich hinter sich und lädt die Expressivität des zeitgenössischen Idioms mit der inneren Spannung des Jazztanzes auf.
Dumais schickt vor allem die Männer in schnelle, wirbelnde Solos voll weiter Würfe und schlenkernder Glieder, lässt die Paare aneinander verzweifeln oder müde ineinander sinken. Manchmal packt sie zwei Tangoschritte oder zehn Sekunden Twist hinein, etwas Slapstick oder eine liebevolle Berührung, aber nie werden die Schritte zu Zitaten, nie zerrinnen die starken, unmittelbaren Gefühle in pathetischen Geschichten. Es sieht aus wie Forsythes „Love Songs“ auf Französisch, wobei die Choreografin die sexuell aufgeladene Wut der Siebziger durch die Brille des Intellektuellen betrachtet – ohne dabei irgendwie an emotionaler Kraft einzubüßen. Anstelle von Tattoos haben die Matrosen aus Jacques Brels Milieustudie „Amsterdam“ große Wörter auf die Brust gemalt: „Liebe“ und „Leben“ steht auf den nackten Oberkörpern, und die Spannung vibriert, als eine laszive schwarze Drag Queen still vor ihnen vorbeischreitet und ihre Arme in einem schlangenartigen Solo züngeln lässt.
Moderner und rätselhafter wird es im zweiten Teil. Ausstatter Jean-Marc Puissant steckt die Tänzer in moderne, exzentrische Kostüme, sie tragen zunächst hüllenartige Kopftücher, die sie erst nach und nach ablegen: ein Pandämonium autistischer Individuen. Die Bühne ist jetzt weit und schrankenlos, die Tänzer bewegen sich fast immer als homogene Gruppe, aus der einzelne oder Paare ausbrechen. Zur herben Grace-Jones-Version von „La vie en rose“ scheint die amerikanische Sängerin livehaftig vor uns hinzutreten, und zwar in der eleganten Gestalt von Brian McNeal, der Drag-Queen aus dem ersten Teil. Lebensgroße graue Puppen rollen herein und ersetzen die Tanzpartner, bis der letzte, rockige Song von der nie endenden Einsamkeit erzählt und das Ballett mit suchenden, leeren Blicken endet.
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