Neues von John Neumeier in Baden-Baden und Hamburg
Der Choreograf unterzeichnet Kuratoren-Vertrag und gewährt Namensrechte bis 2030. Das Festival 2023 startet mit „Dona Nobis Pacem“
Unglaubliche fünfzig Jahre wird das Nederlands Dans Theater bald alt und prägt, selbst schon ein Klassiker, immer noch die Avantgarde des europäischen Tanzes. Für drei Abende war das Mutterschiff aller modernen Ballettkompanien jetzt im Festspielhaus Baden-Baden zu Gast, nach wie vor ein Ensemble der schnellen und ausdrucksstarken Tänzerpersönlichkeiten. Auch nach seinem Ausscheiden als Direktor prägt Jiří Kylián die Truppe, einer der großen Choreografen, die dereinst beim Stuttgarter Ballett angefangen haben, aus dessen Repertoire er zur Zeit leider völlig verschwunden ist. Genau wie William Forsythe (und anders als etwa John Neumeier oder Hans van Manen) ist Kylián nie stehen geblieben, sondern verändert immer wieder seinen Stil, sucht immer wieder Neues. Von der fließenden, schmerzlichen Wucht seiner frühen Werke hat er sich über den Einfluss ethnischer Tänze nun vollends zu einem Choreografen des Surrealen entwickelt. Aber selbst diese verrätselten, stockenden Stücke sind noch immer von einer berückenden Musikalität, die nie zu brav an den Noten klebt, sondern der Musik als Kontrapunkt vorauszufliegen scheint.
„Tar and Feathers“, das neueste der gezeigten Stücke, sieht aus, als wäre ein Gemälde von Salvatore Dalí zum Leben erwacht. Schräg steht ein Flügel auf hohen Stelzen über der Bühne, Klaviermusik tröpfelt herab, Kylián selbst nuschelt aus dem Off Samuel Becketts letztes Gedicht, in dem es um die vergebliche Suche nach dem einen, alles sagenden Wort geht. Teer und Federn aus dem Titel spiegeln sich im Schwarzweiß der Ausstattung wieder, Monstergebrüll hallt aus dem Mund einer Tänzerin, fünf Irre in Plastik-Tutus spielen Becketts Worte als klassische Ballettpantomime nach. Das Stück ist eine Phantasmagorie aus albtraumhaften und komisch-grotesken Elementen, von schroffem Eigenbrötlertum einerseits und doch seltsam faszinierend in seiner surrealen Bilderwelt. Ebenfalls in Schwarzweiß-Symbolik, aber melancholisch statt kryptisch erscheint „Signing off“ von Paul Lightfoot und Sol León, den beiden anderen Hauschoreografen der Truppe neben Kylián. Sie greifen sozusagen seinen früheren Stil auf und arbeiten in der Tradition des fließend-rasanten, tief emotionalen Tanzes, oft zu Minimal Music wie hier zu zwei Sätzen aus dem Violinkonzert von Philip Glass.
Einsam wandelt ein Todesbote durch die düstere Abschiedsstimmung, zwei Frauen tanzen gegen das Ende an und werden doch tröstlich sanft von schwarzen Wasserfällen aus wallender Seide verschluckt. Das elf Jahre alte „Wings of Wax“ brachte dann wieder Kylián vom Feinsten, mit all der schmerzlich-drängenden Virtuosität seiner früheren Jahre. Kopfüber hängt ein großer, kahler Baum von der Decke, die vier Paare tanzen sozusagen am Himmel, auf den ein Scheinwerfer unablässig wie die Sonne Lichtkreise zeichnet. Puppenhaften Bewegungen stellt Kylián elegische Adagios gegenüber; während die vier Frauen in Zeitlupe fast eingefrieren, wirbeln die Männer in rasenden, verzweifelten Solos durch sie hindurch. Hochsensibel reagiert der Choreograf auf die Musikcollage von Barock bis John Cage, wie stets bei Kylián trifft der Tanz unfehlbar das Innerste der Musik und überhöht sie durch die Schönheit der Bewegungen des menschlichen Körpers.
Links: www.ndt.nl / www.festspielhaus.de
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