Ibsen für Arias
Lola Arias erhält den Theaterpreis Internationaler Ibsen Award
Verwunderung beim Betreten des Zuschauerraums am Premierenabend: Ist Reinhild Hoffmann zurückgekehrt? Eleganz, Transparenz und Helle des Bühnenraums erinnern an ihre Inszenierungen, als sie in Bremen wirkte. Hinter dem durchsichtigen halbhohen Vorhang ist in der Bühnenmitte eine weißgerahmte Leinwand zu sehen, von deren Ecken diagonal nach vorn zur Rampe wieder zwei durchsichtige Vorhänge führen. Links steht ein weiß abgedecktes Klavier, neben dem sich ein Mädchen in roter Trainingshose und orangem T-Shirt gelangweilt räkelt. Ein paar weiße Stühle stehen herum. Klamotten und eine Rettungsweste liegen verstreut auf dem Fußboden. Lautlos taucht aus dem Off eine Dame mit steil nach oben stehender schwarzer Haartolle auf. Ein Hauch von einem Schleier über zwei schmalen Streifen weißer Wäsche verhüllt ihre Nacktheit. Wie sich die gespenstische Gestalt gleichsam in Trance an der Wand entlang tastet, erinnert sie an die somnambule Pina Bausch in „Café Müller“.
Käme nun noch eine Referenz zu Susanne Linke, wäre die Folkwang-Trias komplett, die den Choreografen Urs Dietrich geprägt hat. Aber längst hat der Schweizer ja seine ureigene choreografische Handschrift, seine bitter zynische Sicht auf die Welt ausgefeilt – eine eigene Theatralik und eine Truppe virtuoser Tänzer, die das Attribut „zeitgenössisch“ wahrlich verdient haben. Ihre Bewegungen sind schiere Parodie von Grimassen und Gebärdensprache, ihre Verrenkungen Persiflage akrobatischer Kunststücke und klassischer Ballettposen. Der Zuschauer staunt fasziniert zwischen Heiterkeit, Ekel und Bestürzung. Diesmal mimen sie eine ordinäre Bande übergewichtiger Multikkulti-Proleten: die Putze - eine dralle, Kaugummi kauende Person mit Wuschellocken, in lila Shirt und Jogginghose -, der Tourist, die Naive, die Joggerin, der Möchtegern(?)-Terrorist, der Feiste, zwei Transvestiten, dazu als Relikt einer anderen Zeit: eine blaustrümpfige Klavierlehrerin, die Pergolesi aus den Tasten perlen lässt, bis der Terrorist sie entnervt eliminiert. Das Plastik-Weihnachtsbäumchen auf ihrem Instrument stürzt zu Boden...
„Wohin“ heißt das neue Stück - ohne Fragezeichen im Titel, wohlgemerkt. Ein Statement. Ein Zustandsbericht über den Verlust unserer Kultur. Rilkes Poesie und die Science-Fiction-Welt von „The Matrix“ prallen auf einander. Anderes, Fremdes greift Platz: Eine schwangere, spitzenverhüllte Muslima betört mit tänzerischer Gestik. Die Somanmbule vom Beginn huscht nun mit Trippelschritten, schwarz verhüllt, ganz unbefangen durch den Raum. Schön ist das anzusehen, von delikater Ästhetik. Unappetitlich dagegen, die hier zu Hause sind. Der Feiste bringt, auf der Kloschüssel sitzend, die einzig mögliche Überlebensstrategie mit Darwins Selektionstheorie auf den Punkt: „Nimm dir das Beste. Die anderen müssen leiden oder sogar sterben“. Der Terrorist versteht's als Aufforderung: Er sprengt die weiße Welt in die Luft. Zerzaust und mit versteinerter Miene treten die Mimen, einzeln, an die Rampe. Ein starkes Stück Tanztheater.
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