Liebe unter Kirschblüten

In Dresden beschleunigt David Dawson „Giselle“ auf Gegenwartstempo

Dresden, 21/03/2008

Das Dresden SemperOper Ballett besinnt sich auf die Renaissance, als man bei Fürstenfesten Kunst in bunter Folge reihte. Seiner eigenen Fassung von „Giselle“, gewöhnlich alleiniges Zentrum eines Abends, stellt Hauschoreograf David Dawson eine sinfonische Konstruktion zu Bachs Klavierkonzert d-Moll BWV 1052 voran. In strahlend blauem Raum setzt er neun Tänzer einer fulminanten Attacke aus. Auch wenn die Figuren Namen tragen, teilt sich kein weiterer Inhalt mit als ein zwanzigminütiges tänzerisches Dauerfeuer, das Bachs Noten eng entlang der Struktur der drei Konzertteile in prismatisch sich verändernden, nicht immer transparenten Formationen rasant beflügelt.

Die Petitesse steht allenfalls als Introduktion in Dawsons Bewegungsstilistik: sein Bewegungstempo, flink und flüchtig wie ein Luftzug, die himmelwärts verlängerten, raumsprengenden Linien der durchgestreckten Arme bei überdehntem Oberkörper, den explosiblen Energiezustand, die immense Körperplastik. Vorzüglich getanzt, choreografisch ohne Relief und Tiefe.

Dass sich Dawson seit der Entstehung von „A Million Kisses To My Skin“ im Jahr 2000 entwickelt hat, zeigt seine „Giselle“. Mit der gängigen Version hat sie freilich kaum mehr zu tun. Schon Arne Walthers Bühne für Akt I zeichnet ein imposantes weißes Niemandsland aus Auftrittsschrägen im Mittelgrund, spiralig angedeuteten Hauseingängen an den Seiten. In diesem Ambiente stoßen zwei Welten, zwei Lebensentwürfe wohl auch, aufeinander: eine pastelltönig lichte Jugendgang und, in tiefem Schwarz, das Abgründige um Bathilde und ihre drei Verehrer. Nicht länger Naturidyll contra Hofetikette, Landvolk contra Aristokraten, sondern ein ins Allgemeinmenschliche gerückter Konflikt. Pendler zwischen diesen Sphären möchte Albrecht sein, der das Schwarz seiner Kleidung durch ein helles Hemd kaschiert, sich von Giselle geliebt weiß. Deren Mutter fehlt in der Personnage ebenso wie Albrechts Vater und, in Akt II, Myrtha und ihre Oberwilis. Die Schauergeschichte von der Wili-Werdung lässt Dawson ein Mädchen andeuten, das eine Braut necken möchte. Den Brautleuten und ihrem Geleit legt er einen Pas de cinq in Körper und Beine, der sich zu einem furiosen, frappierend verflochtenen Technikfestival auswächst.

Akzeptierter Teil der übermütigen Tanzfreude sind Giselle und Albrecht, weiße Kirschblüten als japanische Glücksreminiszenz regnen über sie. Dass Dawson mit Details Charaktere zu malen sucht, gehört zu den Positiva seiner Version. So hat Hilarion durchaus auch seine Anbeterin unter den Mädchen, ist nicht nur verlorener Depp; so tändelt Bathilde mit ihren Begleitern, ist nicht mehr die unschuldig Betrogene, wüsste gar Giselle gern in ihrem Zirkel. Dass man nicht erfährt, was Albrechts postulierte Vergangenheit ist, die ihn an Bathildes Kreis mit dem schwarzen Brustmal bindet, ist ebenso ein Manko wie der abrupte Übergang vom fast zu Selbstzweck sich ausweitenden Tanzfuror mit all seinen Stemmhebungen, Wirbelsprüngen, Partnerzuwürfen zu Giselles Wahnsinn mit effektvollem Dolchtot: Rote Kirschblüten tropfen ihr aus der Wunde.

Akt II durchlebt Albrecht wie ein geträumtes Entschuldungsritual in mondbeschienenem Halbdunkel. Dawson lässt auch hier keinen traditionellen Stein auf dem anderen, nimmt allerdings seine Tanzbeschleunigung rapid zurück. Auch hier setzt er weniger auf geometrische Gruppenformen als auf Einzelaktion der ständig schleierumhangenen Wilis in ihren Maillots. Organischer, weicher, weniger forciert und überambitioniert wird die klassisch basierte, ganzkörperlich geschmeidige Tanzsprache, mit der die Choreografie endlich berührt. Über welches Potenzial Dawson verfügt, zeigt nochmals der wie vom Eiskunstlauf mit seinen Überkopfhebungen und Schleifiguren beeinflusste Pas de deux des Solopaars. Giselle legt den Schleier ab, bekennt ihre Liebe: Kirschblüten rieseln als Zeichen der Vergebung auf Albrecht.

Dirigent David Coleman hat Adolphe Adams Musik für die Sächsische Staatskapelle bis zur Unkenntlichkeit umarrangiert, angeblich nach dem Autographen des Komponisten. Man muss es ihm glauben. Yumiko Takeshima und Raphael Coumes-Marquet beeindrucken in den Titelparts, Leslie Heylmann und Fabien Voranger brillieren als Hochzeitspaar, die gesamte Kompanie ist ein Ereignis.


Wieder 23., 29., 30.03.

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