Wettstreit der Kulturen

In Magdeburg befragen „Die verlorenen Schritte“ den Wert der Zivilisation

Magdeburg, 20/02/2008

Wenn man sich anderen Kulturen respektvoll nähert, kann man viel gewinnen, ohne sich selbst zu verlieren. Der das im Programmheft äußert, Magdeburgs Ballettchef Gonzalo Galguera, weiß, wovon er spricht. Seit fast zwei Jahrzehnten lebt der gebürtige Kubaner in Europa, hat jung die fremde Kultur auf sich wirken lassen, im Tanztheater der Komischen Oper unter Tom Schilling eine künstlerische Heimat gefunden. Nach dem Debüt als Choreograf in Dessau leitet er nun die Compagnie der sachsen-anhaltinischen Hauptstadt und zieht in seiner neuen Kreation Bilanz einer Wanderschaft zwischen den Welten - als jemand, der beide Welten gut kennt, sich in beiden heimisch fühlt. So tanzte er kürzlich erst in Olga Iliewas Magdeburger „Giselle“ mit Verve und Linie den Albrecht, einen Part der europäischen Romantik. Für die Uraufführung „Die verlorenen Schritte“ versicherte sich Galguera der Inspiration durch einen weiteren Umtriebigen: Der Roman „Los pasos perdidos“ seines Landsmanns Alejo Carpentier (1904-1980) lieh nicht nur den Titel, sondern auch den - für die Tanzbühne freilich adaptierten - Grundkonflikt.

Carpentiers Figur des zivilisationsmüden Komponisten wird bei Galguera verallgemeinernd ein Suchender. Zu Verkehrsgeräusch irrt er, im Spalt zwischen zwei schwarzen Stoffstreifen anfangs nur von der Hüfte aufwärts sichtbar, durch anonyme, uniform gekleidete Passanten. Seine aufgeklappten, übereinander geschichteten Hände verändern beständig ihr Unten und Oben, als gelte es, zwischen zwei Möglichkeiten die richtige zu erwählen. Dieses Motiv wird in dem ohne Pause laufenden Abend von 70 Minuten Dauer häufig wiederkehren.

Als der Spalt sich öffnet, gehen in nüchtern kühlender Bläue und unter einer Kurve aus roten Neonstäben die ruckhaften Bewegungen der Städter in selbstläufigen Formationstanz über. Verführerisch umgarnt den Suchenden eine mondäne Stadtfrau, der seine Zweifel fremd bleiben. Visualisiert werden diese durch fahl graue, raffiniert illuminierbare Bleistifte, die riesenhaft lang und spitz in den Menschenpulk eindringen, bisweilen bedrohlich über ihm schweben. Rein formal hantieren im Tanz die Männer mit ihren Partnerinnen, tragen sie überkopf, stellen sie auf Spitze, ziehen sie im Spagat von der Szene, spielen dem Suchenden immer wieder jene Stadtfrau zu. Allen edlen Diagonalstaffelungen und klassischen Ausfallschritten zum Trotz verfliegt die Angst des Suchenden nicht, und auch der kurz und heiß getauschte Kuss am Ende eines fulminanten Duetts mit der Verführerin bringt keinen Trost.

Da irrlichtern zu changierender Beleuchtung die Silhouetten archaischer Urwesen durch das Dunkel. Bald erobern sie sich wie in einem Traum die Bühne, bunt geschminkt, mit Blätterkronen und geschlitzten Kleidern, nehmen das verstörte Paar gefangen. Durch eine bezwingende, rotglühende Fantasielandschaft, der sich die hängenden Stifte wie Bambusstengel eingliedern, schreiten die Schamanin und ihr personifizierter Geist herein. Zu Herzschlagton übernimmt der Suchende eine dampfende Weiheschale. Mehr und mehr ziehen die Ureinwohner durch Tanz, Beschwörungsritual, Prozession, Kampfspiel mit speerähnlichen Stöcken den Eindringling in ihren Bann, machen ihn allmählich zu einem der Ihren: Symbolisch versinkt er in der Masse. Die Berührung mit ihm scheint die Schamanin indes zu infizieren, tot sinken sie und ihr zwillinghafter Geist zu Boden. Der Totenklage im Bambuswald folgt der Rückzug. Gemieden bleibt der Suchende allein, sieht erstarrend seine Welt, jenen wieder kalt leuchtenden Wald, aus den Fugen geraten. Über dem Verkehrlärm des Anfangs hallt lockend der Ruf der Panflöte nach.

Dem Choreografen ist mit diesem Dschungeltableau besten Sinns eine seiner wohl schönsten, authentischsten Arbeiten gelungen. Sinfonische Strukturen neoklassischen Zuschnitts bezeichnen zu Musik des Magdeburger Barockmeisters Georg Philipp Telemann, darunter Konzerte für Flöte, unterkühlt die westliche Zivilisation. Auch wenn Galguera dezidiert wertfrei beide Welten gegenüberstellen möchte, gehört seine Liebe doch der südamerikanischen Sphäre. Sie stattet er mit allem magischen Zauber, aller geheimnisvollen Kraft bizarrer Bewegungsfindung aus, lässt die gezirkelte Spitzentechnik des ersten Teils in bodenständigen Barfußtanz geradezu explodieren.

Pate bei diesem auch akrobatisch furiosen Rausch von kaum je versiegender Einfallskraft und mit immer neuen mitreißenden Raumrastern mag ihm jene florale Körperplastizität gestanden haben, wie sie in den 1970ern seine Vorgänger als afrokubanische Schule entwickelt haben, die Folklore dem Bühnentanz dienstbar macht. Die Chilenen Cristian Carvacho, Alejandro Soto und Diego Villela komponierten, Telemanns Themen mit südamerikanischen Instrumenten aufgreifend und umspielend, eine wunderbar atmosphärische Musik für die Urwaldutopie, Kostümausstatterin Pascale Arndtz und besonders Bühnenbildner Juan Léon, beide Galgueras langjährig bewährte Mitstreiter, haben sich diesmal schier selbst übertroffen.

Das ballett magdeburg wechselt souverän zwischen den Stilistiken und brilliert in der ungewohnten, wiewohl klassisch durchwebten Sprache aus Kontraktion und Beckenschlag, als sei sie ihr täglich Brot. Kirill Sofronow und Veronika Zemlyakova sind wieder ein formidables Solopaar, Celia Millán und Andrea Elisabeth García ein ungemein präzises Schamanendoppel.


Wieder am 29.02., 16., 22.03.
Kartentelefon 0391/540 64 44, 65 55, 63 63

Link: www.theater-magdeburg.de

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