Auf dem Narrenschiff
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig über Toula Limnaios' „la nef des fols“
Mit „les possédés“ thematisiert die Cie. Toula Limnaios in der HALLE Besessensein
Mit Dostojewski hat sich Toula Limnaios schon 2005 befasst. War es damals seine Erzählung „Die Sanfte“, der die griechische Choreografin tänzerische Bilder abgewann, so sind es nun ganz allgemein die zerquälten Charaktere des russischen Romanciers, deren Beweggründen sie auf die Spur kommen möchte. Entsprechend leer bleibt diesmal die Szene, nur rechts vorn tropft, surreal menschenlos hängend, ein nasser brauner Mantel in einen Bottich hinein. Schmale weiße Gazeschals an drei Seiten geben dem Raum flirrende Atmosphäre, in der Mitte stehen mit vermummtem Kopf vier reglose Gestalten.
In diese Ruhe hinein rast Clebio Oliveira vom Hof in DIE HALLE, ihm hinterher eine Frau mit Pistole. „les possédés“ heißt das Stück, und sie ist die erste Besessene, zwingt sie dem Mann doch immer wieder Aktionen ab. Heben und schleppen muss er sie, muss fallen, aufstehen, sie küssen und schlagen, singen, etwas von sich erzählen. Das tut der Brasilianer in Englisch und ziemlich persönlich, während sich die Gesichtslosen langsam enthüllen, ihre Tücher malmend in den Mund ziehen. Dann formieren sich die sechs Tänzer zu einem schleichenden Pulk mit Blick auf die Zuschauer, ein Motiv, das immer wiederkehren wird, als wollten sie uns zu Komplizen ihres Tuns machen. Unter Windgeheul, Teil von Ralf R. Ollertz’ Musikcollage, massieren sie sich emsig die Gesichter, Clebio verstrickt sich in ein Hebe-Stütz-Duo mit Mercedes Appugliese, bugsiert und dirigiert sie mit dem Mund, schlüpft ihr schließlich unter die Bluse und streift sie sich so selbst über. Wie in der Anatomiestunde zeigen Finger auf Körperteile, die andere freilegen: Bauch, Ferse, Bein, Handfläche, Rücken, Bizeps.
In ähnlich kryptischen Szenen ziehen sich Frauen Strumpfhosen aus, stecken sie wie apportierende Hunde in den Mund, verfilzen sich in einem Bodenduett. Zu Geräuschschlieren über schwebendem Klang richtet Hironori Sugata, Dienstältester im Ensemble, die Pistole auf uns. Noch eine Pistole taucht auf, und zu zweit drangsaliert man eine Frau, die sich schüttelt, befreit, eine Pistole erlangt, mit ihr aber nichts anzufangen weiß und lieber wieder Opfer wird, das die beiden Gestörten bedrohen soll. Hin und her geht das Täter-Opfer-Spiel, Trance bahnt sich an, eine greift die Pistole, erzeugt mit dem Klicken des Abzugshahns jenen Rhythmus, der die anderen wie liegende Marionetten von Pose zu Pose hetzt.
Da endlich wird das Stück konkreter. Aus dem Rundlauf landet Clebio bei Mercedes und absolviert mit ihr zu Stimmengewirr vom Band das stärkste Duett des Abends, originell in Umgriffen und Transporten, riskant in Ansprüngen und Klammerungen. Was eingangs Massage war, wird jetzt zur fahrigen Schminkprozedur. Mit leichenweißen Gesichtern und maschinellen Bewegungsfolgen tanzt sich der Pulk im kollektiven Ausbruch dem Besessensein entgegen. Mercedes gerät in Beiß- und Zerrwut, Finger weisen auf sie, als sie wahnwitzig aus Hebungen abstürzt. Kopfüber steckt man sie in die Farbtunke des Bottichs, schnappt nun Clebio, zieht ihn aus. Auf seinen Körper peischt Mercedes mit nassem Langhaar in wüstem Anfall schwarze Striemen. Ihr Veitstanz ergreift Clebio: In Reihe treibt man ihn vorwärts, wie er sich auf dem Boden bis zur Bewegungslosigkeit renkt und knotet. Kurz vor dem Publikum schluckt Dunkel das Ritual. Das trifft, hat man einen derart starken Schluss nicht erwartet. Er weist Toula Limnaios einmal mehr als bildgewaltige Choreografin aus, selbst wenn sie sich mehrfach selbst zitiert. Das lässt sich jedoch auch als Nutzung eigenen Vokabulars deuten.
Wieder 4.+5., 9.-12.7., 21 Uhr, HALLE, Eberswalder Str. 10-11, Prenzlauer Berg, berlin
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