Großer Wurf

„Tempo 76“ von Mathilde Monnier beim Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg

Hamburg, 21/08/2009

Am Anfang hockt eine Frau mitten im Grün eines bühnenfüllenden Rollrasens, diffuses Licht, Einsamkeit, Leere, Stille. Vorsichtig beginnt sie sich zu bewegen, tastend noch, immer wieder innehaltend. Nach und nach schälen sich acht weitere Gestalten synchron aus dem Dunkel. Alle neun (5 Männer, 4 Frauen) tragen die gleiche Kluft: Jeans, weißes Hemd, Krawatte (in Erdfarben von lindgrün über ocker bis dunkelbraun). Es sind Menschen wie du und ich, keine Tänzerfiguren, sie sind groß und klein, schlank und mollig, gefällig und sperrig. Alle bewegen sich unisono – liegend, rennend, stehend, robbend, gehend – über das Grün, sie wälzen sich darin, pflücken einzelne Halme aus, käuen sie wieder, sie spielen Krieg, sie greinen und weinen, sind verzweifelt, kratzen sich am Kopf, niesen und husten, halten inne. Immer wieder, immer wieder anders, alle gleich und doch individuell.

Die fast sphärisch anmutende leise Musik György Ligetis dazu spielt eher eine untergeordnete Rolle, man bemerkt sie kaum, sie fungiert wie ein zarter, flauschiger Klangteppich. Mittendrin wechseln die Tänzer die Kleider, tauschen Jeans gegen rot-grün-karierten Faltenrock und Hemd gegen Sweater. Sie zeigen Alltagsgesten – alle zugleich und doch jede*r für sich, sie klagen an, zetern, zicken, schimpfen, prahlen, erklären. Sie sind hektisch, aggressiv, gelangweilt, fordernd, arrogant. Sie klagen an, schütteln Hände, winken, grüßen, gehen weg. Sie sind alle gleich und doch so verschieden. Sie halten uns den Spiegel unseres Alltags vor, und sie machen sich gleichzeitig darüber lustig. Sie persiflieren und sind doch ganz echt. Als alle plötzlich in den Gassen verschwinden, beginnen die Grassoden zu atmen, wölben sich zu kleinen Ausbuchtungen, als würden sie wie Fischmäuler nach Luft schnappen. Das ist urkomisch und beklemmend zugleich.

Wie verzaubert dann der Schluss: Das Licht kommt plötzlich nicht mehr von oben, sondern aus den Gassen, von der Seite, und taucht die Menschen in eine ganz eigene, verwunschene Atmosphäre auf der ansonsten kargen Bühne. Wie in Zeitlupe bewegen sich die neun Gestalten immer noch synchron, haben die Sweater gegen simple T-Shirts getauscht. Aber dann wird aus dem Gleichklang plötzlich Einklang: da ist nichts mehr unisono, da gibt es nur noch Individuen mit ganz eigenen Gesten und Haltungen, und doch erkennbar einander verbunden. Wieder und wider Erwarten beginnen sie zu weinen, aber das Weinen wandelt sich in Lachen, und plötzlich spielen sie mit den Rasensoden – wickeln einander darin ein, bedecken sich damit, tragen sie als Rock, als Hemd, als Hut. Es ist ein einziges großes Gelächter, begleitet von aus dem Rasen wachsenden blauen Luftballons. Natürlich endet das ganze mit einem Knall, in dem der erste Ballon platzt, jede Bewegung erstirbt und das Licht verlöscht.

Mathilde Monnier, die seit 1994 das Centre Choréographique National in Montpellier leitet, ist mit „Tempo 76“ ein großer Wurf gelungen. Ein Stück über unsere Zeit, über die Einsamkeit des Menschen und doch auch über das Verbindende, den Zusammenhang. Ein Stück, das besinnlich macht und das dem Kampnagel-Sommerfestival endlich wieder die nötige Prise Poesie einhaucht, die man in all den coolen Installationen und dem ach-sind-wir-doch-kulturell-Gehabe schmerzlich vermisst hat.

Weitere Vorstellungen: 20./21.8.2009, jeweils 21 Uhr

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern