Noch nicht auf Hochglanz poliert
Wiederaufnahme von „Giselle“ in Stuttgart
Neuinszenierungen von „Giselle“ überraschen nur dann, wenn das Werk völlig neu choreografiert wird, so bei der berühmten „Giselle“ im Irrenhaus von Mats Ek oder auch bei Marcia Haydées verträumter Präraffaeliten-Version von 1989. Greift man auf die überlieferte Choreografie nach Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa zurück, sieht „Giselle“ überall ziemlich ähnlich aus – so auch in der aktuellen Stuttgarter Fassung, die Ballettchef Reid Anderson vor zehn Jahren inszenierte, gemeinsam mit der damaligen Ballettmeisterin Valentina Savina, die er später entlassen hat (inzwischen kämpft die äußerst kompetente, aber etwas zu sehr von sich überzeugte Russin auch beim Berliner Staatsballett um ihren Job).
Mit der Wiederaufnahme des Klassikers eröffnete das Stuttgarter Ballett im Opernhaus die neue Spielzeit. David Walkers Ausstattung ist trotz der schönen Herbstfarben im ersten Akt arg putzig geraten, im zweiten Akt fehlt den Szenen mit den tanzenden Geistern dann schlichtweg die Magie – das mag an John B. Reads Beleuchtung liegen, denn sie taucht die weißen Tutus und Schleier der Wilis nicht in den nachtblauen Schimmer einer Waldlichtung im Vollmond, sondern leuchtet die Hauptpersonen in gesunden, warmen Farben heraus. Anderson und Savina verteilen ihre 18 Mädchen auch nicht weit über die Bühne, sondern lassen sie meist in zwei eng gereihten Grüppchen gegenüberstehen, vielleicht wirken sie deshalb eher verhuscht als bedrohlich oder gar männermordend.
Das Corps de ballet tanzt sauber und begeistert vor allem im ersten Akt mit seiner jugendlichen Frische. Wenn schon virtuose Einlage, dann sollte sie auch virtuos getanzt sein – einen anderen Sinn hat der Bauern-Pas-de-deux im ersten Akt sonst nicht, der in Stuttgart schon deutlich spektakulärer interpretiert wurde als hier von Alexander Jones und der unmusikalischen Laura O’Malley (glänzend dagegen schlugen sich in der zweiten Besetzung Angelina Zuccarini und William Moore als strahlendes Brautpaar). Auch Anna Osadcenko blieb als Wili-Königin wenig souverän und wackelte bei ihren Balancen, aber dafür bot die Stuttgarter Kompanie, zumindest für die Premiere, ein echtes Traumpaar in den Hauptrollen auf. Mag ihre Giselle im ersten Akt auch ein wenig zu sehr in bewusster Koketterie statt vom unschuldigen Charme eines zarten, kranken Kindes erstrahlen, so beherrscht Maria Eichwald doch den zweiten, weißen Akt vollkommen, spiegelt die Entschlossenheit der bedingungslos Liebenden in ruhigen, fast magischen Balancen und hohen Arabesquen, entrückt uns mit ihren schwebenden Armen und den schwerelosen Sprüngen ins Schattenreich der Nacht. Friedemann Vogel hat sich in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt und gehört mit seinem nahezu makellosen, feinen Stil inzwischen zu den besten Danseurs Nobles der Welt – das sieht man in Paris oder St. Petersburg auch nicht besser. Dass er die ansonsten eher fade Rolle des trügerischen Herzogs Albrecht hier zu einem Konflikt fast schillerschen Ausmaßes zwischen Liebe und Pflicht ausweitet, ohne dabei je zu übertreiben, das ist vielleicht die spezielle Stuttgarter Note an dieser „Giselle“. Wo der Klassiker sonst als kunstvolle Ballettreliquie zelebriert wird, deren tradierte Pantomimen es artig zu befolgen gilt, da erzählt John Crankos Kompanie – natürlich, möchte man fast sagen – eine Geschichte voll Dramatik.
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