Musik als göttliches Heilmittel

Yvonne Pouget behandelt das Lebensleid der Kriegsgeneration

München, 01/11/2009

Laut Programmheft dreht sich Yvonne Pougets Stück „Identità – Pellegriaggio a l’amore“ um die Kriegstraumata der älteren Generation. Im Prinzip leiden aber doch alle Menschen im Alter an derselben Krankheit: Wie kann das Schweigen über Verletzungen, das stille Hinnehmen bis zum Tod, im letzten Moment noch durchbrochen werden? Das Stück, aufgeführt im Münchner i-camp, nennt hierfür ein universelles Heilmittel. Es heißt Musik.

Eine alte Frau (Yvonne Pouget) gibt zu Beginn Einblick in ihren Seelenzustand. Nach von Pouget schon oft erprobter Butoh-Manier lässt sie sich von ihren Gebrechen in Zeitlupe niederdrücken, ihr tanzendes Gesicht verrät Schmerz, Starre, Sprachlosigkeit. Und auch Verzweiflung, angesichts der Erkenntnis, so sterben zu müssen. Doch da ertönt Musik, und Erinnerung packt die „Tarntata“, wie Pouget die Stellvertreterin der Alten nennt. Die Klänge der Ciuleandra, einer rumänischen Tarantella mit archaischem Sprechgesang, richten sie langsam auf, versetzen sie zurück in ihre Kindheit – und zurück in den Moment, als sie liebte. Von da an reißt ein musikalischer Reigen den Betrachter mit: Traditionelle Lieder (Pino de Vittorio) wechseln sich ab mit fiebernden Gitarrenintermezzi (Marcello Vitale) und Pas de Deux von Katharina Neuweg und Damien Liger. Liger und Neuweg tun für den Tanz, was sie können: Beseelt und synchron, mit einer technischen Qualität, wie man sie im i-camp selten sieht, demonstrieren sie völlige Hingabe an Melodie und Takt. Sie stehen für beides, sowohl die Erinnerung an die Liebe als auch für die noch nicht traumatisierte, jüngere Generation. Als beides lassen sie sich von magischen Liedern zusammenschmieden und so durch Liebe retten.

Doch die Musik bleibt dabei immer der unumstrittene Herrscher. Nicht einmal Liger kann sich in einem hoch ästhetischen Solo von ihr emanzipieren, sondern darf sich nur von ihr treiben lassen. Pougets Unterwerfung an den Klang geht mit endlosen Melodieschleifen und unaufhörlichem Regenstock-Geriesel auch öfter mal zu weit. Zuletzt hat die „Tarantata“ eine erlösende Metamorphose durchlaufen. Jetzt dargestellt von Pouget befreit sich ihr Körper, rollt wild und frei über die Bühne, der Ewigkeit entgegen. Das Faszinierende daran ist, dass das, was zuvor geschehen ist, eigentlich nur einen Moment dauert. Denn wenn er eine Tarantella hört, absolviert der menschliche Geist die Erinnerungs-Wallfahrt vom Leid über die Liebe zur Befreiung ja praktisch mit Überlichtgeschwindigkeit. Pouget hat ihn dabei weise, aber auch mit etwas zu viel Impetus eingefangen.

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