„Chopin und das Ballett“

„Ballett extra“ mit Maria Babanina zum 200. Geburtstag des Komponisten

München, 28/02/2010

Während der 200. Geburtstag Frédéric Chopins am 22. Februar gefeiert wurde, obwohl er den 1. März 1810 als Geburtstag angab, ist die ablehnende Haltung des Komponisten dagegen, dass seine Musik zum Tanzen verwendet wurde, unumstritten. Maria Babanina, Konzertpianistin und Musikwissenschaftlerin aus St. Petersburg, die als Repetitorin beim Bayerischen Staatsballett nach akribischen Forschungen u.a. für die musikalische Einrichtung der Ballette „La Bayadére“, „Raymonda“ und „Le Corsaire“ verantwortlich war, antwortete deshalb im Gespräch mit Ivan Liska und Wolfgang Oberender auf die Frage, was Chopin mit Ballett zu tun habe: „Gar nichts!“

In ihrem Vortrags-Gespräch, das mit getanzten Beispielen im Studio und auf der Leinwand vorzüglich konzipiert war, arbeitete sie heraus, dass für Chopins Werk Tanzformen wie Mazurken, Polonaisen und Walzer, daneben aber auch ein Krakowiak, einige Eccossaisen, ein Bolero und eine Tarantella „als Ausdruck seiner Heimatliebe, seines Heimwehs, seiner Sehnsucht nach der Familie“ wichtig waren. Doch habe sich Chopin zu jeder Art Folklore distanziert verhalten, aus den Tanzformen poetische Stimmungsbilder gemacht, die verschiedene Gefühle als wesentlichen Inhalt hatten. Der Reichtum der Emotionen und der tänzerische Herzschlag machten, so Babanina, die Seele seiner Musik aus, und das habe Choreografen so inspiriert, dass im 20. Jahrhundert „jede Menge Ballettkreationen zu Chopin-Musik“ entstand.

Ein Vorläufer dazu war am 6. Mai 1849 die Verwendung des Grand Valse brillante, Es-Dur, op. 18 in August Bournonvilles Hommage an die französische Schule, von der Chopin – Friede seiner Asche! – vermutlich nicht mehr Kenntnis nahm. Erst 60 Jahre später eroberte die Ballettwelt Chopins Musik für sich. In einem ersten Tanzbeispiel verkörperte Stephanie Hancox ausdrucksstark die Gestalt der Frau, die dafür entscheidend war: Isadora Duncan, eigentlich eine Amateurin, die klassisches Ballett ablehnte. Als vom antiken Schönheitsideal inspiriertes Naturtalent stürmte sie in die Tanzwelt, als es da ein großes Bedürfnis nach Reformen gab. Die Zeit Marius Petipas mit Glasunow und Tschaikowski war gerade vorbei, als ihre ersten Gastspiele sie im Dezember 1904 und Januar 1905 nach St. Petersburg und Moskau führten.

Russische Choreografen wollten nicht mehr zurück zu bloß dienender „Ballettmusik“, sondern dürsteten nach musikalischer Inspiration. Sie sahen in Isadora Duncan nicht nur eine Freiheitsikone, sondern auch „die erste, die konsequent nur große klassische Konzertmusik benutzte“ und darüber hinaus „einen ganzen Abend nur einem Komponisten gewidmet hat, nämlich Chopin (...), durch dessen Werk sie das ganze Spektrum ihrer Gefühle zeigen konnte.“ Mit großer Detailkenntnis referierte Maria Babanina nun die Abfolge verschiedener Fassungen der „Chopiniana“. Der große Ballettreformer Mikhail Fokine ließ sich zu einer vierteiligen, von Alexander Glasunow instrumentalisierten Suite für seine am 10. Februar 1907 uraufgeführte Choreografie zusätzlich den Walzer in cis-moll orchestrieren.

Von den fünf ursprünglichen Szenen hielt sich als einzige die auf den berühmten Walzer. Diesen Pas de deux mit seinen luftigen Hebungen und Schrittpassagen voller Anmut tanzten Daria Sukhorukova und Maxim Chashchegorov so, dass sie die romantische Sphäre transportierten. Fokine erarbeitete ein Jahr später eine zweite Fassung und 1909 eine dritte für das erste Programm der Ballets Russes. Deren genialer Impresario Serge Diaghilew ließ noch andere Stücke Chopins orchestrieren und erfand dafür den Titel „Les Sylphides“, unter dem sie heute im Westen bekannt ist. Anna Pavlova und Waslaw Nijinsky, in Fokines erster Fassung dabei, präsentierten beide 1914 mit ihren eigenen Kompanien neue Versionen der „Chopiniana“. Auch Waslaw Nijinskys Schwester Bronislawa, für die „Chopiniana“ zeitlebens begeistert, choreografierte 1937 auf Chopins Konzert in e-moll ein eigenes Ballett.

Unter den Stücken zu Musik von Chopin, die zum Genre des abstrakten Balletts gehören, ragen vier Werke von Jerome Robbins heraus: Von „The Concert“, 1956 fürs New York City Ballet geschaffen, wurde ein hoch amüsanter Ausschnitt als Video gezeigt. Verbarg sich hinter der witzigen Ironie dieses Stücks vielleicht auch ein Protest dagegen, dass Chopins Musik so oft für den Ballettunterricht strapaziert wurde? 1969 ließ Robbins mit „Dances at a Gathering“ ein Ballett für fünf Paare folgen, das zu acht Mazurken, fünf Walzern, drei Etuden, dem Scherzo h-moll und dem Nocturne op. 15 in F-Dur etwa eine Stunde dauert. Dazu führte Maria Babanina aus: „Bei Robbins steht der emotionale Ausdruck im Vordergrund, während bei Balanchine vor allem die Struktur der Musik in tänzerische Form umgesetzt wird.“ Und: „Wie bei Chopin folkloristische Elemente poetisiert werden, so wird bei Robbins die Folklore zur Tanzdichtung.“

Schließlich: „Other Dances“, 1976 für Natalia Makharova und Mikhail Baryschnikow kreiert, nehme mit dem „Other“ Bezug auf seinen Vorgänger, und als Nachfolger von „Dances at a Gathering“ sei auch sein „In the Night“ zu verstehen, das er 1970 schuf. Daraus tanzten Lucia Lacarra und Cyril Pierre den dritten Pas de deux – ein Paar, in dessen spontaner Auseinandersetzung sie expressiv agierte, er als Partner auch lange Hebungen souverän tanzte.

Eine weitere Stufe der Aneignung von Chopins Musik durch das Ballett ermöglichte, auf sie Handlungsballette aufzubauen. Zunächst zeigte eine Video-Projektion Lynn Seymour und Anthony Dowell in einem Pas de deux aus „A Month in the Country“ von Sir Frederick Ashton, der seiner Choreografie von 1976 die Musikbearbeitung von John Lanchberry zugrunde legte und in diesem Pas de deux das Aufwachen zweier Liebender aus ihrer Traumwelt darstellte. Auf das gleiche Andante spianato tanzte Natalia Kalinitchenko die Variation der Manon aus „Die Kameliendame“. Daran, wie sie diese Musik als perfekten Ausdruck für Manons Traurigkeit und Resignation nutzte, wurde exemplarisch klar, wie verschieden Choreografen die gleiche Musik hören und benutzen können.

Damit beim längsten Handlungsballett auf Chopin-Musik angelangt, bezeichnete Maria Babanina, beide Tanzbeispiele daraus am Flügel begleitend, John Neumeiers „Kameliendame“ von 1979 als „absolutes Wunderwerk“, das die verwendete Musik nicht nur in ihrer Struktur unbeschädigt ließ, sondern sie als geradezu idealen Fund erwies. Schon Parallelen wie Chopins und Marguerites Todeskrankheit oder das gleiche Lebensgefühl in der Welt der Pariser Salons sprächen dafür. Nach Hinweisen darauf, wie breit die Gefühlsskala der „Kameliendame“ ist und dass die Rolle des Klaviers, je intensiver die Gefühle sind, desto größer sei, während das Orchester das Gesellschaftliche unterfüttere, schloss sie mit einem eindrucksvollen Beispiel: Wie das Largo aus der Sonate in h-moll beim Pas de deux des 2. Akts, wenn das tragische Paar auf dem Höhepunkt seines kurzen Glücks ist, trotz seines Dur-Charakters in den hellen Tönen eine tiefe tragische Spannung hat. Lucia Lacarra und Marlon Dino illustrierten das so faszinierend und lebendig, wie der ganze Abend durch den Widerspruch gefesselt hielt, dass Chopin nie fürs Tanzen komponieren wollte, letztlich aber ideale Ballettmusik geschaffen hat.

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