Tor zu inneren Gesichten

„Choreografen der Zukunft“ präsentieren Sasha Waltz & Guests im Radialsystem

Berlin, 25/02/2010

Leise und ernsthaft arbeiten die „Choreografen der Zukunft“, die jedenfalls unter der Obhut von Sasha Waltz & Guests. Seit 2008 bietet sich ihnen damit ein Podium, sich auszuprobieren. Die jüngste Folge der Programmreihe gehört zu den spannendsten. Sie verknüpft Gegenwart und Tradition, zeigt den rückwärtigen Weg zu den Wurzeln auf. Zwei Stücke von Ensemblemitgliedern leiten den Abend ein. Dass Jirí Bartovanec, talentvoller Compagnietänzer seit 2003, Tscheche ist, wusste man; dass seine Familie ihren Ursprung in Togo hat, erfährt man aus seinem Solo „Aného“. Auf Stoff liegt er unter riesiger Leinwand, auf der kontemplativ Wolkengebilde ziehen, bis sie sich zum Gesicht auflösen, Familienfoto werden. Als der Tänzer aufsteht, trägt er eine dunkle Krinoline und bunten Kopfputz, wird wandernd zum Urahn einer afrikanischen Religion. Smetanas „Moldau“ als Teil einer Klangcollage skizziert den anderen Pol seiner Existenz. Bartovanec zittert bei all den Erinnerungen, rollt den Rock zum Baby, legt den Kopfputz ab, zieht als Priester den Rock zur Kapuze, erblickt im Foto den Säugling, der möglicherweise er war, sitzt einem schräg konterfeiten Schornstein auf wie einem gewaltigen Phallus, streift den Rock ab.

Unter einer Silberkappe und in silbrigen Pluderhosen scheint er, Fremdkörper noch immer, in Europa angekommen, im Boxen sein Heil zu finden. Die Fotos der Angehörigen folgen ihm, bis die Leinwand zum streifigen Testbild wird, die Bindung an die Vergangenheit reißt. Da mutiert er im Film zum weiß gepuderten Geist, der stoßweise Wolken wie seine Seele ausatmet. Auf der Bühne bleiben sein Körper zurück, der Kopfputz, oben hängend der Rock. Rund 40 Minuten dauert Bartovanec’ Seelenwanderung, die ihn an den Grenzen seiner Herkunft rütteln lässt, ihn umtreibt, ohne in Hektik zu verfallen. Nicht immer addiert der sparsame Tanz den Fotos eigenständige Information. Anregend verrätselt gibt sich das Solo allemal.

Einfach schön anzusehen ist das Duett „The Sound of Qin“ der Chinesen Xuan Shi und Niannian Zhou. Sie schmiegen ihren Tanz dem gezupften Klang eines alten nationalen Instruments, der Greifbrettzither, an, wie ihn Sou Si-tai live auf der Szene im Radialsystem erzeugt. In kaum je versiegendem Fluss zieht nach separatem Auftritt jeder im Tanz seine Bahn, schaut dem anderen zu, lässt ihm Freiraum, bis sich beide berühren und dennoch Distanz wahren. Harmonisch, gleitend und lautlos sind die Bewegungen, kein spektakulärer Effekt lenkt vom inneren Glanz der klug gefügten Folgen ab, den Schwüngen und Umhebungen, der Eroberung des schwarz verhängten Raums. Nach nur 15 Minuten hat sich das Paar angenähert, trägt er sie sanft ab. Auf mehr aus beider Ideenreservoir darf man neugierig sein.

Wo indes die neuen Beiträge ihre Basis haben, darauf wies eine Rekonstruktion der wundersamen Art hin. Was einst Kazuo Ohno das Werk von La Argentina wurde, Inspirationsquell eigener Anverwandlung, das ist nun dem jungen Ecuadorianer Fabian Barba die Hohepriesterin des Ausdruckstanzes. Für „A Mary Wigman Dance Evening“ schlüpft er, obgleich schmaler als sie, mit verblüffender Leichtigkeit in die Rolle der Anregerin, tanzt nach, was sie erfolgreich auf ihrer ersten Nordamerikatour gezeigt hat: neun Solos aus Zyklen der späten 1920er, hier „Schwingende Landschaft“, „Visionen“, „Feier“. Weihevoll schreitend und gebärdenreich war Wigmans Tanzsprache, pendelnd zwischen Erdtiefe und Aufsteigenwollen, ein Tor zu den inneren Gesichten. Barba ist ein funkelndes Juwel auf edel mattem Grund gelungen.

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