Merce Cunningham nimmt Abschied

Mit „Event“ beim Kunstfest Weimar und im nächsten Jahr bei Tanz im August 2011 in Berlin

Erfurt, 02/09/2010

Auf der Bühne glich er einem Tänzer von eher trauriger Gestalt. Das Gesicht in Falten gelegt, der Körper ausgemergelt, ertrotzte er sich seinen Tanz, der mit jedem Schritt die Erfahrung eines anstrengenden Lebens seinem Publikum empathisch ins Gedächtnis rufend. Noch mit siebzig durchkreuzte er so, seiner eigentlichen Welt längst abhanden gekommen, immer wieder seine Werke: ein Schatten seiner selbst und doch so unübersehbar und gegenwärtig, wie man sich das als Zuschauer nur wünschen konnte.

Wie lange ist das schon wieder her? Seit gut einem Jahr weilt der Choreograf aus Centralia, Washington, nicht mehr unter den Lebenden. Gerade neunzig Jahre alt, ist er am 26. Juli vorigen Jahres in seiner New Yorker Wohnung gestorben. „Des Treibens müde”, wie es in „Wanderers Nachtlied” so schön und vieldeutig heißt. Und vielleicht eingedenk der Worte: „Was soll all der Schmerz und Lust?” Nicht zufällig verweist John King, am Regler seines Computers drehend, zwischendurch improvisierend auf Goethes Gedicht, während die dreizehn Tänzer und Tänzerinnen der Merce Cunningham Dance Company auf der Bühne des Erfurter Theaters ihr „Event” absolvieren. Schließlich erfolgt ihr lang geplanter Auftritt im Rahmen des Weimarer Kunstfests, und da huldigt man natürlich gerne einmal dem Genius loci. Aber Goethe spricht dem langjährigen Weggefährten Cunninghams insofern auch aus seiner Seele, weil er sich wie alle anderen auf einer Abschiedstournee befindet. Ende 2011, so hat es der Altmeister des Modern Dance im einem Legacy Plan noch verfügt, soll sein Lebenswerk endgültig der Vergangenheit angehören und sein Ensemble sich in alle Winde zerstreuen.

Ein Fall für die Geschichte ist er allemal. So hat Cunningham bei all seinen Experimenten Kopf und Kragen riskiert. Er veranstaltete Happenings, als dazu noch einiger Mut gehörte, und machte längst in Mixed Media und Minimal Art, als die meisten Konkurrenten noch artig ihr Ballett-ABC buchstabierten. Mehr als einmal angefeindet, traute sich der ehemalige Parteigänger Martha Grahams (und einer ihrer besten Interpreten) zu einer Zeit auf die Straße, als dort noch niemand tanzte. Cunningham arbeitete in Museen, ging in Schulen und praktizierte eine Beweglichkeit, die keinen bestimmten Ort brauchte – ein Ereignis eben, besser gesagt: ein „Event”, das aus Prinzip einmal blieb.

Das ist auch bei dem „Event” nicht anders, mit dem die Cunningham Company ihr Gastspiel beim Kunstfest Weimar beschließt. Anders als bei der nachgelassenen Cunningham-Choreografie „Nearly 90²”, die zusammen mit „Roaratorio” und einem gemischten Abend beim Tanz im August 2011 in Berlin noch einmal zu sehen sein wird, weiß eigentlich niemand, was auf ihn zukommt. Nicht einmal die Tänzer, die im Augenblick der Aufführung zum ersten Mal die Musik von John King und Takehisa Kosugi erfahren.

Von Robert Swinston programmiert, eröffnet ein Quartett aus „eyeSpace” (entstanden 2006) in Erfurt das „Event”, das anderthalb Stunden später mit dem „Fast Dance” endet: ein Mixtum compositum aus Cunningham-Choreografien wie dem zwillingshaften Duett aus „Aeon” oder einem Quintett aus „CRWDSPCR”, das sich vor „Immerse”, einer farbenfrohen Bildcollage von Robert Rauschenberg aus dem Jahr 1994, abwechslungsreich abhebt. Die Arme immer wieder eingewinkelt, den Kopf oft zu Seite geneigt, während sich Torso um einen körperlichen Ausgleich kämpft, formen sich die Splitter und Szenen aus insgesamt siebzehn Choreografien prozesshaft zu einem Stück Tanz, das man gut und gerne auch als kollektives Gedächtnis erklären könnte – scheinbar einfach und doch überaus komplex in seinen durchstrukturierten Bewegungsabläufen.

Tags darauf erzählt Cédric Andrieux bei Tanz im August im Berliner Hebbel-Theater im gleichnamigen Bio-Solo von Jérôme Bel, wie schwierig diese scheinbare Simplizität immer gewesen ist. Knapp ein Jahrzehnt bei Cunningham unter Vertrag, kennt sich Andrieux bestens aus. Er zeigt nicht ohne seine Zuschauer zu erheitern, wie sich dessen Training aufbaut und sich in seine Stücke in den letzten Lebensjahren gestalten: ein Einblick, wie geschaffen für ein „Event” wie das in Erfurt – und anders als ein „Event” durchaus wiederholbar, wenn die Merce Cunningham Dance Company zum letzten Mal in Deutschland gastiert.

www.merce.org

 

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