Nach reiflicher Überlegung
Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen
Martin Schläpfers „Neither“ als Höhepunkt des neuen Abends beim Ballett am Rhein
Was für ein ungewöhnliches Programm: ein jazziges, leichtes amerikanisches Stück, dann ein sehr kurzer, strenger Klassiker des deutschen Ausdruckstanzes, und schließlich eine spröde, hermetische Uraufführung von einer Stunde Dauer zu nicht minder schwieriger neuer Musik, im Grunde eine Zumutung für jedes konservative Ballettpublikum, die, man denke an die Münchner "Artifact"-Premiere, bei jeder anderen deutschen Opernballettkompanie sicher auf Widerspruch gestoßen wäre. Nicht so in Düsseldorf, wo Martin Schläpfer mit „b.04“, dem vierten Programm seines Balletts am Rhein, das Publikum offensichtlich schon auf seiner Seite hat. Ja es klingt aufrichtig so, als würde hier sein Mut bejubelt.
Von Twyla Tharp, die gerade im März wieder eine ihrer großen Tanzshows an den Broadway gebracht hat (dieses Mal zu Sinatra-Songs), war in deutschen Kompanien bisher relativ wenig zu sehen, das ändert sich seit Martin Schläpfer. Ihr jazziges, elegantes "Baker's Dozen" (für ein Dutzend Tänzer) kombiniert zur Mischung aus Ballett und Modern Dance auch Anleihen aus dem Gesellschaftstanz und kleine, kokette pantomimische Momente. Und bleibt doch dekorative Oberfläche, möglichst viel schicke Bewegung um viel zu wenig Inhalt - gerade im Gegensatz zum Hausherrn Martin Schläpfer, der solch choreografisches Herumtändeln schon lange abgeschafft hat. Die Boogie- und Ragtime-Klänge des Jazzpianisten Willie "The Lion" Smith, in Düsseldorf interpretiert von Cécile Tallec, umschmeicheln die Auftritte sechs munterer Paare in edelst abgetöntem Sommerweiß, die Frauen mit flatternden Rockschößen über schmalen Hosen. Obwohl superb getanzt von den so schön individuellen Düsseldorfer Tänzern, sieht "Baker's Dozen" also ein bisschen aus wie Jerome Robbins ohne Seele, bleibt bei aller Neckerei glatt und verbindlich, lässt einzig dort aufmerken, wo die amerikanische Choreografin zuweilen im Hintergrund einen Einfall über die Bühne huschen lässt, so schnell, dass man seine Jugendfrische kaum erfassen kann.
Streng abgezirkelt zwischen höfischem Tanz und Triadischem Ballett, von der einfachen Klarheit großer Klassiker präsentiert sich die „Pavane auf den Tod einer Infantin“, uraufgeführt 1929 von Kurt Jooss zu Ravels gleichnamiger Klavierkomposition beim Essener Folkwang-Tanztheater-Studio. Fünf Damen und drei Herren demonstrieren in stilisierten höfischen Kostümen, die Ärmel nur durch Teller um die Arme angedeutet, das unbarmherzige zeremonielle Schreiten. Die Infantin im grünen Kleid (Carolina Francisco Sorg) prallt mit ihrer Bewegungslust und dem Willen, sich selbst im Tanz auszudrücken, gegen die beiden Mauern aus formstrengen Hofschranzen und stirbt gewissermaßen zermalmt in der Mitte, die Hand zur letzten ausdrucksvollen Geste erhoben.
Um die Unmöglichkeit, das Selbst und die anderen zu verstehen, um die vergebliche Suche nach einer metaphysischen Heimat geht es in den elf sparsamen Zeilen Samuel Becketts, die Morton Feldman 1976 als Libretto seiner einstündigen Oper „Neither“ vertonte, mit flirrend hohen Soprantönen und manchmal überraschend tonalen Klängen. Geheimnisvoll changieren die Quadrate der großen Videowand im Hintergrund, wie ziehende Wolken, die viel zu groß gepixelt wurden – Schläpfers Ausstatterin Rosalie lässt sie von der Grundfarbe Grau in die zartesten Abtönungen hinüberspielen, nach Gelb, Grün, Blau oder Braun, ähnlich den sanft verschwimmenden Klangflächen Feldmans. Auch die Kostüme der vielen Tänzer (auf der Bühne steht die gesamte Kompanie) sind in den unterschiedlichsten Grautönen gehalten; die leere Bühne hat Volker Weinhart hell ausgeleuchtet, nicht wie eine klinische Studie, mehr wie ein klares Bewusstsein, dessen Ränder die Seitenkulissen bilden, hinter denen überall weitere Menschen, weitere Daseinsmöglichkeiten lungern, lauern, leiden. Es herrscht eine wirre, trostlose Beckettsche Verlorenheit – all die Vignetten und Szenen, die Martin Schläpfer früher nacheinander zu einem Werk, einem Bild zusammengesetzt hat, laufen hier parallel ab, oft ist die ganze Bühne bevölkert, von Duos, Trios, Gruppen und immer wieder von einsamen Individuen, hockend, mit hängenden Schultern herumstehend, in sich gekehrt, beziehungslos.
Die einzige Konstante des Stücks ist der Tänzer Jörg Weinöhl, der fast das gesamte Stück über auf seinem Platz hinten rechts bleibt, anfangs ein Verlorener unter vielen und doch ruhiger, manchmal wie in Meditation versunken. Um dieses Individuum herum kreist das Stück wie ein absurdes Welt(tanz)theater, zeigt uns so etwas wie sein Geworfensein in eine Welt ohne Gewissheiten, die zahllosen Perspektiven, aus denen keine Auswahl getroffen werden kann.
Martin Schläpfers Bewegungssprache hat hier die Eleganz, das Fließen verloren, sie wirkt abgehackt, stockend, suchend, wechselt unvermittelt von neoklassischen Ballettbewegungen in Krämpfe, Zuckungen, wildes Schütteln, ja in die Art von Kontorsionen und spastischen Verschlingungen, die William Forsythe derzeit macht (als würde sich Schläpfer dagegen wehren, zu dessen Antipode stilisiert zu werden). Wohl ziehen zwei Ballerinen spiegelbildlich wie die großen Schwäne ihre Bahnen (später taucht für eine Sekunde auch der Schwanenkreis auf, genau wie die nach hinten gereckten Schwanenarme), wohl gibt es immer wieder athletische oder virtuose Versuche - Sprünge, Double Tours, Pirouetten, reine klassische Posen -, wohl steht Marlúcia do Amaral auf Spitze, aber wieder knallt sie ihre Schuhe aggressiv auf den Boden, knickt vorwärts auf die Spitze hinauf in ihrem tröstlich-brutalen Duo mit Chidozie Nzerem.
Oft sieht es aus, als ob die Individuen etwas vor sich hin zelebrieren, befangen in ihrer Bewegungsart, manchmal als Tai-Chi, ein anderes Mal sogar in einer Hip-Hop-Schraube. Nie konzentriert sich das Geschehen auf einen Schauplatz, selbst gegen das große Unisono am Schluss behaupten sich ein paar Eigenwillige. Der Choreograf bietet uns keine feste Ordnung mehr an, es gibt keine Struktur, keinen durchgängigen Stil. Das klassische Ballett, einst Schläpfers Ausgangspunkt, scheint jetzt nur noch als Zitat übrig geblieben zu sein, in winzigen Momentaufnahmen, die flüchtig an die Klassiker oder Neoklassiker erinnern und doch zu schön, zu elaboriert wirken inmitten des Zitterns, der einwärts verkrampften Füße, der zusammengesunkenen Gestalten: nicht mehr Zuflucht, nur noch Erinnerung, die sacht sich schließenden Türen aus Becketts Libretto. Zum ersten Mal bekommt man Angst, ob es für den immer drängender fragenden Choreografen Martin Schläpfer überhaupt ein Zurück gibt.
www.ballettamrhein.de
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