Pistolen zum Kinderchor

Das Scapino-Ballett gastiert mit Marco Goeckes „Nussknacker“ im Kammertheater

Stuttgart, 20/12/2010

Das kommt auch nicht allzu oft vor, dass eine Ballettkompanie eine fremde Truppe einlädt, das exakt gleiche Stück zu zeigen, das man zuhause auch im Repertoire hat. Aber über den Vorbereitungen für sein 50-jähriges Jubiläum hatte das Stuttgarter Ballett einfach keine Zeit, Marco Goeckes „Nussknacker“ wieder selbst einzustudieren und lud deshalb das holländische Scapino-Ballett, sozusagen Goeckes zweite Heimat, für vier Aufführungen ins Kammertheater ein. Die vier Jahre alte poetische Groteske ist sicher eine der versponnensten Produktionen, die Tschaikowskys Partitur je erlebt hat, und gleichzeitig eine der fantasievollsten. Wie unterschiedlich neue Tänzer die drei Hauptpersonen charakterisieren, war schon an den verschiedenen Stuttgarter Besetzungen zu erleben. Das Mädchen Klara, das am Weihnachtsabend einen Nussknacker von ihrem Onkel geschenkt bekommt, lächelt hier bei Annemarie Labinjo-van der Meulen ein wenig frecher als die ernste, fast feierliche Elena Tentschikowa damals in Stuttgart, dafür ist der Nussknacker-Prinz Brandon O’Dell ein rechter Haudegen.

Mit Rein Putkamer zaubert beim Scapino-Ballett ein total verspielter Drosselmeier, ein echter Märchenonkel, der unter seiner Bonbonperücke voll Vorfreude ins Publikum strahlt und sich über jede seiner Überraschungen selbst amüsiert. Ansonsten tanzt die Rotterdamer Kompanie Goeckes Märchen mit genau der gleichen Liebe und hintergründigen Komik wie das Stuttgarter Ballett - nur ein bisschen lauter. Das Lachen ist schriller, all das Klatschen, Pfeifen, Reden, Schnalzen und Knuspern fällt ein wenig heftiger aus, als wäre es für ein weit größeres Theater gedacht. Die Mäuse sind punkiger, der ganze Schwerpunkt der Interpretation hat sich eine Nuance weit von der Lyrik der klassisch geprägten Stuttgarter Tänzer in Richtung freche Groteske verlagert, ohne aber je die Balance zu verlieren.

Dass seine Choreografien mit einer modernen Ballettkompanie nicht ganz so subtil und fein herauskommen wie mit vornehmlich klassisch tanzenden Interpreten, das muss sich Goecke vielleicht genauer überlegen, wenn er je eine eigene Kompanie gründen will. Jede Begegnung mit dem Werk belegt erneut, wie genau der Choreograf auf die Musik gehört hat, und hilft, all das Zittern und Zappeln der tanzenden Armen zu verstehen, denn für jede Bewegung gibt es einen Grund. So formen sich zum Beispiel die Hände der Weihnachts-genervten Schneefee punktgenau dann zu Pistolen, wenn im Schneewalzer der süße Kinderchor einsetzt. Arme malen Tannenbäume in die Luft oder züngeln zum Liebsten hin wie interessierte Insektenfühler, Drosselmeier zündet Klara buchstäblich ein Lichtlein über dem Kopf an. Und manchmal wirft sich der Choreograf auch einfach in die romantische Musik: zu der schönen Steigerung, mit der Tschaikowsky Klara und ihren Prinzen in den verschneiten Tannenwald fliehen lässt, steht das Mädchen bei Goecke einfach nur da und fliegt mit geschlossenen Augen, im Traum.

Wie fast alle Goecke-Ballette endet auch dieses mit einer Verbeugung vor dem Publikum, hier verbeugt sich der überdimensionale Zylinder, in dem sich Drosselmeier selbst versenkt und verzaubert hat. Am Weihnachtsabend zeigt 3sat noch einmal die Aufzeichnung mit der Uraufführungsbesetzung von 2007, die schlechte Verfilmung aber ist für Goecke-Einsteiger kaum zu empfehlen, weil sie die schnellen Bewegungen mit viel zu schnellen Schnitten zu einer verwirrenden Hektik verwischt und viel zu viel von dem übersieht, was auf der Bühne passiert.

www.scapino.nl

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