Scheiden tut weh

Das Staatsballett weint „Hinter den Linden“ seinem angestammten Heim nach

Berlin, 01/11/2010

Scheiden tut weh. Nicht nur von Menschen, auch von vertrauten Umständen. Das Staatsballett Berlin ist in dieser Situation. Anfang nächsten Jahres wird es in sein neues Domizil an der Bismarckstraße ziehen. Die Deutsche Oper ist dann Spielort und Firmensitz zugleich. Beides war der Kompanie, deren Historie bis 1742 zurückgeht, als Friedrich II. den Auftrag zur Gründung eines Hofballetts gab, bislang die Staatsoper Unter den Linden. Knobelsdorffs klassizistischer Prachtbau, 1741 eingeweiht, nach der Kriegszerstörung 1955 wiedereröffnet, zwischenzeitlich nur notüberholt – er ist rechtschaffen verbraucht. Ob die Tänzer dem maroden Zustand noch nachweinen, wenn sie ihr komfortabel geplantes neues Zuhause in Besitz genommen haben, bleibt zu bezweifeln. Vorerst tun sie es, und stellvertretend hat sich des Umzugsschmerzes die Fotografin Kerstin Zillmer angenommen. Ihre Kamera richtete sie auf Winkel, die für die Behaglichkeit des Eingewohnten stehen, dennoch nicht die Narben, Schrunden an Bau und Mobiliar leugnen. Die Zeit war der stille Handwerker, der all jene Veränderungen vornahm. Die zufälligen, öffentlich nicht zugänglichen Kramecken in den Räumen „Hinter den Linden“, so der Titel des großformatigen Bandes, zieht Zillmer ins Licht und riskiert Entzauberung: Von idyllischer Betulichkeit kann bei all den Schadstellen nicht die Rede sein.

Fotos sind es, im Band oft ganzseitig und mit weißer Gegenseite gedruckt, vom Tänzeralltag, der nicht so wohlgeordnet verläuft wie in den Formationen der Wilis und Schwäne. Da hängt an der Ballettstange und übereck im Spiegel zu sehen ein leeres Tutu, die kostbare Hülle in Warteposition, rosa Spitzenschuhe gleich daneben auf dem Fensterbrett wie gefaltete Hände. Da baumelt eine ganze Batterie von Tüllröcken auf dem Kleiderständer wie gehängtes Federvieh, fährt der Blick in ein Dreivierteltutu wie in eine geöffnete Pfingstrose. Da stehen Spitzenschuhe an die Wand gelehnt auf der Spitze, ohne Ballerinenbein, verzittern zerschlissene Schuhe als hässliche Entlein am Kleiderhaken ihr Dasein. Garderoben enthüllen kreativen Wirrwarr, das Edelkostüm neben dem Handtuch, der Stuhl mit zum Schrei aufgerissenem Nobelbezug vor angeschrammten Schränken. Steckdosen rufen in die reale Welt ebenso zurück wie auf einer Konsole aufgebockte Bügeleisen, in Reih und Glied wie Ballerinen. Der Boxsack zur Ertüchtigung und Abreaktion gehört zur Herrengarderobe, die Ansammlung schlapper Schläppchen unterm Schminktisch wohl auch. Damen und Herren dürften sich in der Raucherecke getroffen haben, die verweist als Stillleben vorm Wandkasten fungiert. Auf rissige Wände und das zerbröselnde Holz der Fensterrahmen richtet sich die Kamera, auf die abblätternde Farbe an der einst königlichen Oper.

Und auf die sie - noch - bevölkernden Tänzer. Fremd wie Erscheinungen in der Stille alt gewordener Architektur tauchen sie auf, wirken schon nicht mehr heimisch dort, wo sie einst beruflich ihr Heim hatten. Nadja lugt nur im Rahmen vor, über Beatrice schwebt als sanftes Damoklesschwert eine Wolke aus Tüll; aufgestellt zum Familienfoto vor grüner Wand, neben Marmorstufen und gedrechseltem Geländer, haben sich Iana und Marian. Keiner lacht, auch nicht Hausherr Vladimir Malakhov im blau durchwirkten Pullover vor blau gemusterter Seidentapete im Apollosaal. Der Geruch der Generationen, der die Atmosphäre einer Baulichkeit mitbestimmt, er wird allen fehlen. Nach der Sanierung beherbergt das Haus nur noch die Oper, dem Ballett bleibt es immerhin Auftrittsstätte. So mischt sich beim den Band schließenden Kompaniefoto im illuminierten Zuschauerraum ins Adieu auch ein frohes À bientôt.

Kerstin Zillmer: „Hinter den Linden. Das Berliner Staatsballett“, mit einem Essay von Jutta Voigt. Edition Braus, Berlin Heidelberg, 104 Seiten, 60 Abbildungen, 45 €, ISBN 978-3-89466-317-9

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