Probe mit Marcia
Intime Einblicke beim „Training zum Zuschauen“ mit Marcia Haydée beim Staatsballett Berlin
Theaterregisseur Tomaž Pandur im Gespräch über sein Stück „Symphony of Sorrowful Songs” fürs Staatsballett
Nirgendwo nimmt der Faktor Zeit derart komprimiert Gestalt an wie im Tanz, der vergänglichsten aller Künste. Nun möchte auch das Staatsballett Berlin dieses Phänomen genauer unter die Lupe nehmen und hat den slowenischen „Totaltheater”-Schöpfer Tomaž Pandur mit einer Stückentwicklung beauftragt. Das lang erwartete Ergebnis ist nächsten Samstag auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden zu sehen. Im März - kurz nach Beginn der Proben - sprach Frank Weigand mit dem Regisseur über interdisziplinäre Kunstansätze, die Freundschaft mit seinem Choreografen Ronald Savkovic und die Inspirationen für „Symphony of Sorrowful Songs”.
Redaktion: Ihre Produktionen sind zumeist „Totaltheater”-Erlebnisse, bei denen sich verschiedene Medien zu einem Gesamtwerk verbinden. Ist das Programm - oder ergibt sich das einfach so?
Tomaž Pandur: Das ist durchaus Programm. Ich glaube immer noch an die Magie des Theaters, die jeden Tag aufs Neue geboren wird. Für mich ist die Kunst wie ein lebendiger Organismus, für den es keine von außen herangetragenen Beschränkungen geben kann. Deshalb verschwinden heutzutage die so genannten Genregrenzen immer mehr. Im Grunde geht es mir vor allem um Freiheit: Um die Freiheit, alles zu verwenden, was mich irgendwie inspiriert - ohne jegliche Unterscheidung oder Zensur. Ich bin wie ein spielendes Kind, das ohne jegliche Furcht, ohne formale Begrenzungen einfach alles ausprobiert. Theater ist wie eine Matrix, in der man seine eigenen Regeln aufstellen kann. Und das liebe ich daran.
Redaktion: Das heißt, Genrebegriffe wie „Theater” oder „Tanz” sind für Sie längst überholt?
Tomaž Pandur: Für mich hat die Einteilung in Genres keinen Sinn mehr. Es geht vielmehr darum, neue Arten des Denkens zu erfinden. Ich mochte diese Einteilungen in „Sprechtheater”, „Musiktheater, „physisches Theater”, usw. noch nie. Theater ist eine Lebenserfahrung, eine Reise durch Zeit und Raum. Alles andere ist eine veraltete Sichtweise aus dem 19. Jahrhundert. Im Zentrum steht die unglaubliche Kraft einer Handlung, die sich gerade im Moment entfaltet. Ich sage immer: Jede Nacht, wenn sich der Vorhang hebt, beginnt das Ritual.
Redaktion: Wie schafft man es als hart arbeitender Profi, sich einen derart idealistischen, fast mystischen Ansatz zu bewahren?
Tomaž Pandur: Theater war für mich immer eine Möglichkeit, mir selbst eine neue Welt zu erschaffen. Wenn man wie ich vom Balkan stammt, in zwei bis drei unterschiedlichen politischen Systemen gelebt hat und in einer extrem komplexen multikulturellen Realität geboren und aufgewachsen ist, kann das Theater ein Fluchtraum sein, eine Möglichkeit, die Dinge selbst zu gestalten.
Redaktion: Sie sind sowohl als Theater- wie auch als Filmregisseur ausgebildet...
Tomaž Pandur: Vielleicht kann man meine Kunst deshalb als „kinematografisches Theater” bezeichnen. Aber wie gesagt, die Form ist gar nicht so wichtig. Man kann für die Manifestierung eines Gedankens unterschiedliche Formen wählen. Und wenn man hinter ein Bild schaut, so ist da immer ein Gedanke.
Redaktion: Dennoch haben Sie sich entschieden, mit dem Staatsballett ein Stück zu erarbeiten, dass ja nun „tänzerisch” werden muss...
Tomaž Pandur: Trotzdem würde ich nicht sagen, dass es ein „Tanzstück” ist. Es stehen uns so viele Sprachen zur Verfügung, um uns auszudrücken: die Physis, die neuronale Tätigkeit unseres Gehirns, Architektur, Malerei. Und jetzt sind wir gerade gemeinsam auf der Suche. Im Moment ist das wie auf einem Schlachtfeld: Wir testen die Kraft der verschiedenen Sprachen aus - und ich suche hinterher diejenigen aus, die mir am besten geeignet scheinen.
Wir haben Körper auf der Bühne, Text, eine unglaubliche Schauspielerin wie Hanna Schygulla - und nicht zuletzt Vladimir Malakhov, der eine wichtige Inspirationsquelle für mich ist.
Redaktion: Für die Choreografie ist Ronald Savkovic verantwortlich, der jahrelang erster Solotänzer am Staatsballett war. Wie verläuft die Zusammenarbeit zwischen ihm und Ihnen als Regisseur?
Tomaž Pandur: Ronny und ich arbeiten seit 20 Jahren zusammen, schon lange bevor er als Solotänzer hier nach Berlin kam. 1990, als Ronald gerade 16 war, sah er ein Stück von mir, das ihn so beeindruckte, dass er am nächsten Tag bei mir vor der Tür stand und mich kennenlernen wollte. Und so wurde er ein Teil meiner Familie und tanzte und schauspielerte in zahlreichen Produktionen von mir. Und jetzt, wo er den Schritt vom Tanz zur Choreografie gemacht hat, sehe ich ihn immer noch als einen „Universalkünstler” wie mich selbst, bei dem zunächst der kreative Gedanke zählt und erst in zweiter Linie dessen formale Umsetzung.
Was die Arbeitsweise angeht: Ich behandelte die Tänzer wie Schauspieler, Ronny behandelt sie wie Tänzer - und dann verlassen wir uns auf unser Glück dabei, wenn wir die Dinge zusammenfügen (lacht). Unser Ziel ist es, ein Kunstwerk zu schaffen, das sich allen formalen Kriterien entzieht, bei dem niemand sagen kann, „was” es nun eigentlich ist - es geht einfach um eine andere Ebene von Kunst.
Redaktion: Im Zentrum Ihrer Produktion mit dem Staatsballett steht das Phänomen der Zeit. Was hat Sie dazu inspiriert?
Tomaž Pandur: Eines Tages las ich in Madrid, wo ich gerade lebe, das Buch „Sculpting in time” („Die versiegelte Zeit”) des russischen Filmemachers Andrej Tarkovskij und dachte mir: „Das ist genau das, was ich als Regisseur mache - die Zeit wie ein Bildhauer bearbeiten.” Und kurioserweise rief mich wenige Tage später Ronny aus Berlin an, der zufällig gerade dasselbe Buch las, und sagte zu mir: „Das ist auch genau das, was ich als Tänzer mache.” Also beschlossen wir, uns gemeinsam in einem Projekt mit diesem Phänomen zu beschäftigen.
Zunächst sollte das Ganze in Anlehnung an den Physiker Stephen Hawkins „A brief history of time” heißen, doch dann kam uns das Universum der Naturwissenschaften nicht emotional genug vor. Und nachdem wir die dritte Sinfonie des genialen Komponisten Henryk Górecki verwenden wollten, die „Sinfonie der Klagelieder”, beschlossen wir, den Titel in „Symphony of Sorrowful Songs” umzuändern.
Redaktion: Sie sagen „emotional”. In Deutschland hat man in unseren postmodernen Zeiten Probleme mit den großen Gefühlen auf der Bühne. Emotion ist oft nur noch erlaubt, wenn sie ironisch gebrochen wird. Sie haben bereits in Deutschland gearbeitet. Wie waren Ihre Erfahrungen dabei?
Tomaž Pandur: Ich hatte einmal eine fantastische deutsche Schauspielerin, die sich weigerte, auf der Bühne „Ich liebe dich” zu sagen, weil ihr das zu kitschig vorkam. Ich dagegen komme aus einer sehr emotionalen Kultur. Und das ist gerade das Wunderbare. Ich schaffe meine Kunst aus dem Zusammenprall von Gegensätzen. Das ist gewissermaßen mein Erbe: Dadurch, dass ich in einer Gesellschaft voller Gegensätze und Widersprüche aufgewachsen bin, ist es für mich sehr wichtig, einen Raum für gegenseitige Toleranz und Respekt zu schaffen. Man darf nicht zum Opfer seiner eigenen Vorurteile werden. Theater ist schließlich dazu da, solche Begrenzungen zu überwinden. Außerdem sind Gefühle, Emotionen die Essenz unseres Seins. Dort nimmt jede Kunst ihren Anfang - ausgehend von einem unbewussten, rein emotionalen Impuls. Ich sage immer, das ist wie, wenn man ein Parfüm herstellt: Für eine Träne auf dem Gesicht meiner Schauspielerin brauchen wir mehr als eine Tonne Rosenblätter.
Redaktion: Sie arbeiten oft jahrelang mit bestimmten Künstlern wie z.B. Nacho Duato zusammen - wie wichtig ist diese Komplizität?
Tomaž Pandur: Es ist, wie wenn man sich verliebt. Manchmal sieht man die Arbeiten von jemand und hat das Gefühl: Wir müssen dieselbe Blutgruppe haben! Zusammenarbeit mit anderen ist für mich das Wichtigste überhaupt: Ich beziehe meine Inspiration immer von Leuten, die besser sind als ich (lacht).
Redaktion: Sie haben jetzt Ihre erste Woche Proben in Berlin hinter sich. Fällt es den Tänzern des Staatsballetts schwer, sich auf Ihr künstlerisches Universum einzulassen?
Tomaž Pandur: Bisher fiel es ihnen erstaunlich leicht, aber ich bin sicher, dass es noch ziemlich schwierig für sie werden wird (lacht). Nein, Spaß beiseite - ich fühle in dieser Kompanie einen ganz starken Hunger nach neuen ungewöhnlichen Erfahrungen. Ich bin sehr glücklich, in der privilegierten Situation zu sein, dass ich mit der gesamten Riege der ersten Solisten arbeiten darf - und die kreative Energie, auf die ich hier stoße, ist wirklich enorm. Und nicht zuletzt ist Vladimir Malakhov das künstlerische Rückgrat dieses Projekts: Seine Neugier, seine künstlerische Sensibilität - aber auch sein Background, seine persönliche Lebensgeschichte - tragen ganz entscheidend zur Entwicklung dieses Stückes bei.
(Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien bereits in der Ausgabe 04/05/10 des Magazins TanzRaumBerlin) www.staatsballett-berlin.de www.pandurtheaters.com
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