Alles Atem, Ereignis und Ekstase

Walter Matteini und seine „Imperfect Dancers“ setzten bei den Regensburger Tanztagen mit „Thinking Outside the Box“ einen Höhepunkt

Regensburg, 29/11/2011

Manchmal ist jener Tanz der Beste, der im Berühren der Herzen unverständlich bleibt. Seit jeher kennzeichnet den zeitgenössischen Tanz das Vielsagende. Seine existenzielle Ausdruckskraft zeigt sich, wenn er Assoziationsräume aufzureißen vermag, sich zum Subjekt stellt, sofern dieses überhaupt angenommen wird, und sich dieses darin spiegeln darf. Viel hängt dabei vom Umgang mit dem Raum, von der Bewegungsrhythmik und einem Tänzerkörper ab, der sich im Moment der Performance transformieren darf. Die Erinnerungen an die innere Reise des Choreografen und seiner Tänzer während der Stückentwicklung sollen wie Sedimente in im abgelagert sein, ohne einen Darstellungsanspruch mächtig werden zu lassen.

Walter Matteini und seine italienische Kompanie mit dem intelligenten Namen „Imperfect Dancers“ setzten bei den Regensburger Tanztagen diesbezüglich mit der Welturaufführung von „Thinking Outside the Box“ einen Höhepunkt. Unentschieden, weil nicht radikal genug, wirkte Anh Ngoc Nguyen Uraufführung „Raise and Fall“. Und bei Olaf Schmidts Deutschlandpremiere von „IAMNOT“ für „Imperfect Dancers“ entdeckte man erst nach einiger Anstrengung das Eigenleben des Tanzes, weil der scheidende Ballettchef bei der Zeit schindenden Publikumsbegrüßung (man leuchtete und probte bis kurz vor knapp) erzählen meinte zu müssen, was ihn zu dem Stück inspiriert hatte: eine Romanvorlage über Kinder, die nur als Organspender ins Leben gerufen wurden.

Inhaltlich war davon wenig erkennbar, außer einer gewissen Verlorenheit in der Atmosphäre oder Uniformität im Kostüm, die an englische Internatschüler erinnerte. Das Stück überzeugte jedoch wegen seiner Choreografie. Auf die andere, erdiger wirkende, erst 2009 neu gegründeten Truppe „Imperfect Dancers“ übertragen, wirkte Schmidts langgliedrige und viele Drehmomente integrierende, moderne Bewegungssprache ungemein frisch und kraftvoll. Konsequent formulierte er sie in unterschiedlichen Konstellationen durch, vom Solo über das parallel arbeitende Duett bis zur Gruppe. Mit am schönsten dabei: ein Männerduett, beide nur zwei Meter auf einer Linie voneinander entfernt, im Gleichklang durch den Raum greifend. Ähnlich genussreich Hungh Tonc Aum, mit dem Unterschied, dass sich hier einer der ganz Jungen in Verehrung für William Forsythe offenbarte. Stil und Ästhetik ähnelten sich verblüffend – angefangen vom Einsatz großer Scheinwerfer zur Schaffung des Lichts, über bunte Tops, T-Shirts und knappe Höschen, die ein langes Bein ins Szene setzen, bis zur zergliederten, von Aktion und Reaktion geprägten Bewegungssprache zu elektronischen Beats á la Thom Willems.

Fulminant kreierten die Regensburger Tänzer, für die Aum seine Kreation geschaffen hatte, ein global interpretierbares, den urbanen Empfindungen von Gegenwart entsprechendes Bewegungsfeld. Irgendwann gab man sich im Geiste dem überlaut werdenden, technoiden Sound hin, folgte den sich permanent verändernden Strukturen im Raum, und tanzte innerlich die einzelnen Bewegungsäußerungen mit. Die Spiegelneuronen freuten sich. Der Rest, eine Dreiecksgeschichte, auf die alles zulief, und die schon den Beginn des Stückes markierte – Licht einer Glühbirne, Nebelmaschine, Mädchen in Top steht darin und schiebt surreal die Mundwinkel hin und her – war nach dieser herrlichen Jetzt-Erfahrung überflüssig.

Matteinis grandioses „Thinking Outside the Box“ ließ sich auf keinen geschichtlichen Zusammenhang festlegen. Dafür wurden zu wenig Zeichen gesetzt, jede Fährte führte in die Irre. Die Szenerie wirkte surreal: eine offen stehende Schachtel, über deren linke Kante ein abgeschnittener blonder Frauenzopf baumelt, Hände, die an ihr entlang fahren, Füße in der Luft, ein Tänzer, der sich wie ein Gnom bewegt, das junge Mädchen im grünen Kostüm, viel später kreideweiße Oberkörper, Szenen zwischen Wachen und Schlafen, scheinbarer Gegenwart und noch nicht vollendeter Vergangenheit. Man dachte an Märchen, an Unbeherrschbares, an Düsteres, irgendwann an Ground Zero. Bach berühmtes „Air“, durchschnitten mit Geräuschen trug einen davon. Zeiträume schoben sich im Kopf übereinander. Dazwischen die atemberaubende Ina Broecks, ehemals Tänzerin bei Mauro Bigonzetti, die irgendwann in Robe durch den Raum schreitet, dann Julio Quintanilla, der erschöpft an der Seitenendwand steht, auszieht, mitzieht, sich entkleidet und mit nacktem, Oberkörper zu einem Duett tiefster Empfindsamkeit findet, in dem Schmerz, Trauer, Müdigkeit und aufbäumende Leidenschaft gelebt werden.

„Thinking Out of the Box“ ist Atem, Ereignis, Blick, Gefühl, Erinnerung, Entsetzen, Statement und tänzerisch eine Wucht. Die Performer zeichnete aus, natürlich und ganz bei sich zu sein, während sie mit ihren hochathletischen, auf Präzision trainierten Körper das ganze Bewegungsregister zeitgenössischer Tanzchoreografie zogen. Es überrascht nicht, dass beide Kompagien und (wieder) Olaf Schmidts Bewegungssprache zur Entdeckung des Abends wurden.

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