Der den Wolf von der Leine lässt…

Schläpfer, van Berkel und van Manen beim Ballett am Rhein

Düsseldorf, 11/04/2011

„Das Freilassen von Energien, das Loslassen einer Kraft, die man unter Kontrolle zu haben meint, und von der wir doch nicht wissen, wo sie uns hinführt, ist wie ein gefährlicher Wolf, den man zu Hause in einem Käfig hält, obwohl man genau weiß, dass man ihn freilassen sollte; ein Wolf, den man schließlich gehen lässt, obwohl man weiß, dass dann etwas passieren wird…“ So umschreibt der englische Komponist und Performer Paul Pavey das Thema von „Unleashing the Wolf“ („den Wolf von der Leine lassen“), der neuen Choreografie von Martin Schläpfer mit Intermezzi von Regina van Berkel.

Wie ein Dompteur agiert und werkelt Pavey mit Pauken, Drums, Tam-Tam und Klavier, Vokalisen singend und Finger schnalzend auf einem riesigen Kubus. Vor ihm ein Wildtier-Gehege aus gleißenden Edelstahlplatten. Die Lichterreihen, die dieses Geviert grell wie einen Gefängnishof ausleuchten, spiegeln sich in dem Metall und dem blutrot glänzenden Boden wider. Eine Reihe von Baumstümpfen am Rand ist das einzige Relikt einer vernichteten Natur. Fast ein Ambiente wie für ein Stück von Pina Bausch – jedoch: viel zu „edel“ und noch weiter weg von der Natur, näher bei der elitären Kunst des Balletts. Eine Chiffre für die heikle Balance künstlerischer Kreativität.

Die entfesselte Wildheit kreativer Kräfte, die Schläpfer auf die von ihm selbst entworfene Bühne bringt, personifiziert er als Tänzer auf Spitze, in Schläppchen oder barfuß. Sie schütteln wild ihre Mähnen, gerieren sich halb Mensch, halb Tier – ironisch auch mal als Kinder mit Plüsch-Kuscheltier im Arm. Die braunen Tutus der Ballerinen sind von der Taille nach oben gerutscht. Die Rüschenteller schnüren den Brustraum ein, hindern die Arme in ihrer Bewegungsfreiheit. Erdig-braun sind auch die Trikots der 48 Tänzer. Dompteur Pavey kann die „Bestien“ meist, so scheint’s, im Zaum halten. Nur ab und an flackern Aggressivität, böses Zähnefletschen auf – etwa in einer kleinen Szene im Halbdunkel seitlich an der Rampe: eine Wildkatze (Yuko Kato) bedrängt, kratzt, würgt ihr Junges (Sachika Abe) und schlägt es in die Flucht. Am Ende haben sich allesamt zerfleischt – nichts bleibt als vier männliche Torsi.

Die Intermezzi, die Regina van Berkel zwischen Schläpfers Szenen schiebt, fügen sich mehr als dezent ein. Friedfertige Varianten auf das Thema sind‘s, etwa Dreier- oder Viererformationen sich spielerisch verflechtender Gestalten wie man sie aus van Berkels „Frozen Echo“ in Erinnerung hat. Gehört diese neue Choreografie von Schläpfer/van Berkel in die Reihe der wenigen theatralischen Ballette, denen sich eine Art Handlung unterlegen läßt, so präsentiert Schläpfer mit seinem Meisterwerk „Streichquartett“, 2006 ausgezeichnet mit dem „Prix Benois de la Dance“, reinen Tanz. Die faszinierend lautmalerische Streichermusik des Polen Witold Lutosławski konterkariert der Schweizer mit seiner unfasslich vielseitigen Körpersprache. So wie van Berkels Prägung immer wieder durch ihren Lehrmeister William Forsythe deutlich sichtbar ist, verneigt sich Schläpfer in „Streichquartett“ einmal mehr tief vor seinem „Idol“ Hans van Manen. Wie nah er der asketischen, hochvirtuosen Eleganz des Holländers ist, demonstriert der Mittelteil dieses neuen Ballettabends b.08 mit van Manens Pas de deux „Two“ (mit Marlúcia do Amaral und Remus Şucheană) und „Solo“ (mit Sonny Locsin, Alexandre Simões und Maksat Sydykov) – funkelnden Juwelen des zeitgenössischen Kammertanzes. Die Leistung des in seiner 2. Saison schon überraschend homogenen „Ballett am Rhein“ ist schlichtweg fabelhaft.

www.ballettamrhein.de

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