Der Musikalischste

Zum Auftakt der Ballettfestwochen gastiert das Nederlands Dans Theater II

Stuttgart, 08/02/2011

Am ersten Festival-Wochenende war mit dem Nederlands Dans Theater II die erste der Kompanien in Stuttgart zu Gast, die den weiteren Weg der drei ganz großen, ja epochalen Choreografen aufzeigen sollen, die das Stuttgarter Ballett in die Welt hinausgeschickt hat: Jiří Kylián, John Neumeier und William Forsythe. Bereits 1975 verließ der Tscheche Kylián, der nur sieben Jahre zuvor seine Tänzerlaufbahn in Stuttgart begonnen hatte, die Kompanie und wurde Direktor des NDT, wo er bis heute ziemlich genau 100 Ballette choreografiert hat. Angefangen bei einer pastellfarben fließenden Natürlichkeit über fernöstliche Philosophie, über die erdgebundenen Einflüsse der australischen Aborigines bis hin zu einer schwarzweißen, sehr abstrakten Phase wurden sie im Laufe der Jahrzehnte zunehmend surrealer. Anstatt sich zu wiederholen oder modisch auszufransen wie bei manch anderem Choreografen, verdichtete sich Kyliáns Tanzsprache immer mehr.

Die Junioren des NDT, eine wahrlich ausdrucksvolle Vertretung der großen Hauptkompanie, zeigte nun im Opernhaus zwei neuere Werke von Kylián und dazwischen zwei Stücke von Paul Lightfoot und Sol León, den aktuellen Hauschoreografen des NDT. Fast alle setzen sich mit der Illusion des Theaters auseinander, in Kyliáns „27‘52““ (der Titel bezeichnet die Dauer des Stücks) zum Beispiel lösen sich selbst die Parameter der ohnehin schon abstrakten Tanzbühne in ihre Einzelteile auf – zur elektronischen Musik von Dirk Haubrich schlägt der Tanzteppich Wellen und wird zur unsicheren Unterlage, fällt schließlich in schweren Bahnen vom Himmel, die Tänzer kriechen darunter oder wickeln sich ein. Ähnlich in „Subject to change“ von Lightfoot/León, wo sich der Tod und das Mädchen zu Sätzen aus Franz Schuberts gleichnamigem Streichquartett auf einem roten Teppich verführen und verjagen, ins Rotieren gebracht wird er von vier statuarischen Boten in dunklen Mänteln. Wie so oft zaubern der Brite und seine spanische Ehefrau mit wenigen Requisiten und atmosphärischem Licht eine unheimliche Szenerie auf die Bühne, wie so oft erinnern ihre düsteren Gestalten ein wenig an Edgar Allan Poe. Grotesk und ironisch dagegen kringelt sich ihr „Shutters Shut“ zu einem Unsinnsgedicht von Gertrude Stein an der Rampe entlang: Analog zur Stimme der Autorin verfällt in Paar ins mechanische Wiederholungen, sozusagen in choreografisches Stottern.

In „Gods and Dogs“, einem der letzten Stücke Kyliáns, sind die Theaterillusionen dann plötzlich machtvoll wieder da. Mit fast unheimlichem Effekt taucht in der Tiefe des Raums die Projektion eines Wolfs auf und läuft aus uns zu, riesige Schattenfiguren machen die Tänzer zu Zwergen und sogar der Vorhang aus glitzernden Regenfäden scheint auf die Musik zu changieren, ein magisch schöner Effekt. Es könnte eine Vorstudie zu den Münchner „Zugvögeln“ sein. Was auch immer Jiří Kylián und seine beiden NDT-Nachfolger choreografieren, ihr Tanz ist von einer fließenden Schönheit, wirkt bei aller Modernität, bei allem Stocken und allen Brüchen nie gesucht, manieriert oder überdehnt. Nie steht die reine Bewegung im Vordergrund, selten ist der Tanz sich selbst genug, sondern er sucht, fragt und zweifelt wie jede Kunst, schwelgt manchmal auch in Eleganz und Schönheit oder einer Illusion davon. Ob direkte Impulse aus Dirk Haubrichs elektronischer Musik durch die Körper laufen, ob ein Gedicht grotesk-pantomimisch umgesetzt wird oder Schubert und Beethoven im weiten, elastisch schwingendem Fluss: Es ist eine freie, gelöste, stets das Tänzerische betonende Sprache, die bei allen grotesken Verschlingungen oder stummen Schreien nie verkrampft aussieht, bei all den geheimnisvollen Posen nie statuarisch. Wo Kylián selbst sparsam und sehr surrealistisch geworden ist, da verströmen Lightfoot/León ihre Bewegungen reicher und zuweilen mit einem dunklen Pathos, aber schließlich sind sie zwei Jahrzehnte jünger als ihr Lehrmeister. Der aber bleibt der musikalischste unter den drei Großen, mit denen das Stuttgarter Ballett den europäischen Tanz beglückt hat.

www.ndt.nl

www.stuttgart-ballet.de

Kommentare

Noch keine Beiträge