Nach reiflicher Überlegung
Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen
Martin Schläpfer choreografiert „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms
Ein einziger Spitzenschuh für einen ganzen Abend Ballett – langsam stöckelt Marlúcia do Amaral darin über die Weite der Bühne nach vorne, ein winziges Bisschen nur hinkend auf der anderen, der nackten Fußspitze, so zuversichtlich und würdevoll in ihrer windschiefen Balance, dass jedes Lächeln über das unzureichende Hilfsmittel in Erbarmen zerrinnt. Ansonsten wird „Ein deutsches Requiem“ vom kompletten Ensemble barfuß getanzt, in einem ungewohnt modernen Idiom, weit weg von Balanchines Klarheit und van Manens Eleganz, verwischter, freier, und vor allem: so viel ernster als die beiden neoklassischen Hausgötter. Eineinhalb Stunden lang fragt Martin Schläpfer mit bohrender Schärfe nach den letzten Dingen, rennt gegen die Leere an, nimmt mit seinem verrätselten, zweifelnden Tanz dem „Deutschen Requiem“ jegliches protestantisches Pathos und lässt Brahms plötzlich wie einen intellektuellen Grübler klingen.
Chor und Gesangssolisten sitzen auf einer bühnenbreiten Empore im ersten Stock, darunter befindet sich eine Art Wartesaal mit einer gläsernen Zelle in der Mitte (Bühne: Florian Etti). Vielleicht sehen die unvorteilhaften Kostüme von Catherine Voeffray mit Absicht so unschön aus, verleugnen wie die Choreografie bewusst alles Pathos, alles lieblich Mitschwingende, jede schmale, nach oben strebende Silhouette: Während die Männer weite schwarzen Hosen und Oberteile tragen, hat sie für die Frauen schwarzglänzende Stoffteile wie Kuhflecken auf hautfarbenen Trikots befestigt, eine Mischung aus zerfetzten Cocktailkleidern und sackartigen Kutten. Es scheint eine moderne Gesellschaft zu sein, die da auf spiegelnd-schwarzem Boden herumsteht, vier große vertikale Lichtrohre sorgen in der Höhe für Erleuchtung und machen rechts und links abgesenkt die Bühne zum Gefängnis. Irgendwann fallen die Kleider ohnehin nicht mehr auf, so elementar wühlt die Wucht der Choreografie, die Tiefe der Gedanken.
Das Ballett hat keine Großstruktur, keine der Partitur abgelauschte Ordnung, sondern reiht in Martin Schläpfers typischer Manier Bilder und Szenen aneinander – hier aber nicht die kleinen, bildhaft ziselierten Vignetten, sondern sehr oft große Ensembles, wütend anstürmend oder müde dahinziehend. Männertrupps segeln regelrecht über die Bühne, eine Frau wird immer wieder im hohen Sprung abgefangen, eine andere als Erlöserfigur getragen und dann einfach liegen gelassen. Wenige Bewegungsmotive ziehen sich durch den Abend, die strahlenden Vorwärtssprünge auf das gesungene Wort „Freude“ etwa, das Haltsuchen der Frau auf den Füßen ihres Partners. Es ist viel Energie, viel Anrennen und Verzweiflung in diesem Tanz, es gibt regelrechte Kicks zuweilen; nach lemurenartigem Hasengang und vierbeinigem Huschen wirken die wenigen klassischen Posen fast wie eine Erlösung - eine tiefe Arabesque der Tänzer etwa, beide Arme zum Himmel gestreckt.
Oft füllt das gesamte Ensemble die Bühne, wie schon „Neither“ ist auch das „Deutsche Requiem“ getanztes Welttheater. Müde Trauergesellschaften ziehen über die Szene und lassen Gefallene, ratlos Herumstehende hinter sich zurück, bilden ein psychedelisch zuckendes Riesenkreuz. Immer wieder stockt der Abend in Bildern der Müdigkeit und Resignation: Männer tragen die Frauen wie Leichen über der Schulter, die hoffnungsvoll nach oben gereckten Arme sämtlicher Tänzer fallen nach und nach enttäuscht wieder herunter. Ratlos kommen sie auf die Bühne, manche rückwärts, wie hineingestoßen in einen zufälligen Ort, den man durchquert.
Als zwei Zäsuren stehen der vierte und fünfte Satz unter den großen Ensembles, minimalistisch in den Bewegungen, gefasst oder vielleicht auch resigniert in sich ruhend, der Unterschied ist schwer zu fassen. Für ein tröstliches, stilles Duo zwischen Yuko Kato und Jörg Weinöhl versinkt im vierten Satz die Bühne in tiefem Nachtblau. Manchmal stehen sie sich nur gegenüber, kauern nebeneinander, bevor ihr inniger, klassischer gefasster Tanz in ein paar weite, gemeinsam Drehungen ausbricht. Wo Martin Schläpfer wie kein zweiter Geborgenheit und tiefes Vertrauen zeigen kann, so ist es im nachfolgenden Satz, dem von Sylvia Hamvasi so wunderschön gesungenen Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“, das Hinnehmen und Erdulden. Mit einer seltsamen Gewissheit zieht Marlúcia do Amaral ihre Lebensbahn, der rechte Fuß auf Spitze, der linke nackt, sie findet eine Zeitlang eine Stütze in Remus Şucheană, den sie dann gebeugt und resigniert zurücklässt. Müde legt sie den Kopf auf die Hände, die auf der Erde ruhen, richtet sich schließlich wieder auf und geht gefasst und lächelnd so hinaus, wie sie gekommen ist.
Echten Trost gibt es keinen, auch nicht in der Musik; er ist hier nur ein Hinwegtäuschen über die Unmöglichkeit der Gewissheit. Wo die geistlichen Choreografien bei John Neumeier oder Uwe Scholz in tröstlichem Pathos enden, mit zum Himmel erhobenen Armen, erlösenden Engeln oder der schönen Ballettgeometrie, da herrscht hier blanke, dumpfe Ratlosigkeit. Martin Schläpfer zeigt die Frage, nicht die Antwort, sein Ballett ist weder getanzte Philosophie und schon gar nicht getanzte Religion, es ist getanzte Suche. Ratlosigkeit, Resignation, Erdulden, Akzeptieren, Erbarmen und Trost: Martin Schläpfer kann das alles in Tanz fassen. Ganz zuletzt kommen Seile vom Himmel mit Schlaufen, Haltegriffe wie in der U-Bahn, an die sich die Menschen dann klammern, jeder alleine an sein eigenes. Es reicht nicht einmal zum Aufrichten, so knapp über der Erde hängen die Notgriffe, die letzte Rettung vor dem Zu-Boden-Sinken. Ein schmerzvolles Schlussbild.
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