Der Klassik-Glamour ist zurück
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Ulyana Lopatkina in Alexei Ratmanskys „Anna Karenina“ in Baden-Baden
Wie schwer es ist, durch Tanz eine komplexe literarische Geschichte zu erzählen, beweist die derzeitige Krise des abendfüllenden Handlungsballetts. Immer wieder gibt es Versuche, diese Form neu zu beleben, aber oft ist dabei für den Zuschauer eine sehr genaue Kenntnis des Originalwerkes vonnöten, um die Personen und ihre Verhältnisse auseinander zu dividieren.
Tolstois „Anna Karenina“, an dem sich bereits Choreografen wie Maja Plissetskaja, Terence Kohler und Boris Eifman versucht haben (letzterer wohl am erfolgreichsten, wenn auch mit viel spektakulärer Tanzakrobatik, die wenig von Tolstois sehr langsam voranschreitendem Roman hat, ist sowohl ein geeigneter als auch ein schwerer Stoff: schwer, weil es gilt, über tausend Seiten Romanhandlung voller verschiedener Personen und Schauplätze und voller komplexer Seelenzustände zu visualisieren, geeignet deswegen, da es um höchste Leidenschaft geht, die seit jeher ein Lieblingsthema des Tanzes ist. Das Ehebruchs- und Verzweiflungsdrama kann, wenn man sich wie alle genannten Choreografen einzig auf die Haupthandlung konzentriert, relativ schlüssig tänzerisch dargestellt werden, riskiert jedoch durch das Wegfallen der Tolstoischen gesellschaftskritischen Überlegungen, ins Melodramatische abzugleiten.
Vor dieser Gefahr ist auch Alexei Ratmansky, ehemaliger Direktor des Bolschoi-Balletts und von New York bis Paris gefragter Choreograf, nicht gefeit. Man ist im Vergleich zu seinem „Buckligen Pferdchen“ und einigen herrlichen choreografischen Funden in „Der helle Bach“ versucht zu vermuten, dass er sich im humorvollen Genre wohler fühlt als beim Erzählen hochemotionaler Geschichten (dagegen spricht der Erfolg, den er jüngst mit seiner „Romeo und Julia“-Version für das Kanadische Nationalballett hatte). Dieser Verdacht wird noch erhärtet durch die konventionelle Pantomime, mit der Ratmansky zuweilen die Handlung veranschaulicht: oft wird realistisch entnervt gestikuliert, auf die Knie gefallen und zu Boden gesunken, wo auch durch Schritte erzählt werden könnte. Wronskis pirouettierendes Verzweiflungssolo vor seinem leicht fadenscheinigen Selbstmordversuch ist nur ein Beispiel dafür, dass es dem reinen Tanz nicht durchgehend gelingt, Seelenzustände zu veranschaulichen. Rodion Schtschedrins etwas profilarme, filmmusikhafte Partitur hilft gewiss auch nicht viel dabei, das Geschehen zu charakterisieren und einen dramaturgischen Bogen zu spannen. Zudem zwingt die genaue Szenenaufteilung der Musik mit sehr schnellen Schauplatzwechseln den Choreografen zu einer gewissen Hektik, wo manches noch tänzerisch auszudeuten wäre.
Dabei versucht Ratmansky durchaus, innovative Lösungen für die Umwandlung des opulenten Romangeschehens zu finden. Die häufigen Szenenwechsel, die die starke Konzentration der Handlung erfordert, werden durch Projektionen (von Wendall Harrington) auf drei Bühnenwände gemeistert, die dem Ganzen noch eine filmähnlichere Note geben. Dabei öffnet sich zuweilen das untere Drittel der Rückwand, um den Blick auf einen Salon oder einen Zugwagon freizugeben, der in recht kecker Dramaturgie mehrmals über die Bühne kreiselt (Bühnenbild und Kostüme Mikael Melbye). Ob diese Illusion funktioniert, bleibt dahingestellt (ähnliche Fragen könnte man sich für viele gemalte Kulissen stellen), aber es löst gewisse inszenatorische Schwierigkeiten, wenn beispielsweise Annas projiziertes Gesicht Wronskis Gedanken veranschaulicht, wenn Karenins Verwandte von den Familienportraits missbilligend auf den Entehrten hinunterblicken oder wenn beim Pferderennen galoppierende Hufe und ein stürzender Reiter den Kontext und den Grund für Annas Angst um Wronski erklären. Auch einige in Nebelschwaden gehüllte Träume, vor allem mehrere Pas de trois der drei Hauptfiguren, visualisieren Gedanken und Ängste der Protagonisten sowie Annas Zögern zwischen den beiden Männern.
Der Tanz bleibt dabei meist abstrakt und klassisch-virtuos und die durchweg exzellenten Tänzer machen daraus, was sie können. Am wenigsten zu beneiden ist dabei Islom Baimuradov als verklemmter Karenin, der in seiner Härte und Rücksichtslosigkeit kaum darstellerische Kompensation für seine tänzerische Inaktivität erhält. Besser hat es da Yuri Smekalovs virtuoser Wronski, der von seinem draufgängerischen ersten Auftritt an ein ansprechendes Gegenmodell zum stocksteifen Karenin bietet. Der von Eifmans Truppe extra für dieses Stück angeheuerte blonde Tänzer erweist sich darüber hinaus als aufmerksamer Partner und talentierter Darsteller.
Und erst Ulyana Lopatkina in der Titelrolle! Sie beherrscht vollkommen die Kunst, jeden ihrer Schritte mit Sinn zu füllen und Annas Seelenleben sichtbar zu machen. So wird vieles erst verständlich, was bei einer weniger subtilen Interpretation rätselhaft bleibt, beispielsweise die Motivation ihres sehr eilig beschlossenen Selbstmordes. Lopatkina besitzt im Überfluss das, was Tolstois Romanheldin auszeichnet: die besondere Ausstrahlung, die sie zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft macht und die Würde, die sie auch in den Momenten höchster Leidenschaft, Verzweiflung und Eifersucht nicht verliert. Es wäre gewiss hochinteressant, sie als Tatjana in Crankos „Onegin“ zu sehen! Man kann nur bewundern, wie beständig und variantenreich sich Ratmansky mit der Form des abendfüllenden Handlungsballetts beschäftigt. Wenn er auch hier durch die Fülle des Stoffes und die genauen Szenenvorgaben der Partitur künstlerisch eingeschränkt ist, hat er ein spannendes Tanzstück geschaffen, das – zumindest bei sehr guter Besetzung – die Geschichte verständlich und berührend erzählt. Würde er dabei noch etwas mehr auf die Mittel des Tanzes setzen, wie er es beispielsweise in den Pas de deux zwischen Anna und Wronski tut, wo er kreativ choreografische Ausdrucksmittel für die verschiedenen Phasen ihrer leidenschaftlichen Liebe findet, ergäbe sich daraus gewiss noch ein dichteres und schlüssigeres Tanzdrama. So gibt es vor allem der wundervollen Ulyana Lopatkina eine weitere Gelegenheit, das Publikum durch eine Kostprobe ihrer im Mariinsky-Ballett unerreichten darstellerischen Größe zu erfreuen.
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